Rendsburg, den 01.10.1989
Liebe Omi,
es ist Sonntagabend und ich sitze allein in meiner Stube in der Kaserne. Vor 4 Stunden war ich noch zu Hause, gestern Abend um diese Zeit war ich noch mit meinen Freunden zusammen in der Druckerei. Hier in Rendsburg habe ich jetzt keine Freunde mehr. Alle sind vorgestern nach Hause gefahren und sie werden auch nicht wiederkommen, weil ihr Wehrdienst jetzt beendet ist. Es ist so ruhig hier. Sonst war es am Sonntagabend immer so, dass alle nach und nach hier ankamen, mit der Bahn oder ihrem Auto. Dann haben wir uns noch für ein oder zwei Stunden zusammen hingesetzt und über das Wochenende zu Hause geredet. Die Stimmung war nie besonders gut, weil alle natürlich lieber zu Hause geblieben wären. Aber immerhin waren wir zusammen und konnten reden. Jetzt ist alles anders, und ich glaube, ich halte das nicht mehr aus. Es ging bisher nur, weil ich hier Freunde gefunden habe. Und die sind jetzt weg. Morgen will ich mit dem Kompaniechef sprechen und eine heimatnahe Versetzung beantragen. Wenn ich den Rest meiner Bundeswehrzeit in Minden oder Bückeburg stationiert werden kann, dann könnte ich jeden Tag nach Hause fahren. Ich hoffe so sehr, dass das klappt! Wenn sie sich nicht drauf einlassen, weiß ich wirklich nicht mehr weiter.
Ich gehe jetzt ins Bett und versuche zu schlafen.
Habe dich lieb
Paul
Zu den schrecklichsten Momenten im Leben zählen jene, in denen einem klar wird, dass es nicht nur schlimmer kommen kann, sondern unweigerlich schlimmer kommen wird. Als ich am Freitagabend nach dem endgültigen Abschied meiner Freunde aus Rendsburg in der Druckerei saß und mich betrank, fühlte ich nichts anderes als eine alles umfassende Hoffnungslosigkeit. Mein Denken wurde gelenkt und beherrscht von der unumstößlichen Tatsache, am Montag meinen Dienst in einer Umgebung antreten zu müssen, die mir nun noch fremder und feindseliger vorkam als bereits zuvor. Eine Schraubzwinge schien die verbleibenden Stunden in der Heimat zwischen Ankunft und Abfahrt immer schneller zusammenzupressen. 22 Uhr, 23 Uhr, Mitternacht, schon Samstag. Die Uhr hinter der Theke hatte dem neuen Tag schon zwei Stunden entrissen, als sich zwei Gäste lautstark für den kommenden Montag am gleichen Ort verabredeten und mir damit den finalen Stoß versetzten. Ich trank weiter, trank an gegen die Zeit, gegen die Fakten, gegen die ganze Welt.
Am Samstag gegen Mittag wachte ich schwer verkatert auf. Der vergangene Abend war aus meinem Gedächtnis ausradiert, die Gründe des Besäufnisses lagen noch unter einer sämigen Soße aus Restalkohol und Schlaftrunkenheit verborgen, dem Bewusstsein gnädig für einen kurzen Moment entzogen. Mein kleiner Fiat stand vor dem Haus; ich musste noch gefahren sein. Das Fahrzeug meiner Eltern war nicht zu sehen, ich war folglich allein im Haus. Während ich unter der Dusche stand, kehrte das Wissen um meine ausweglose Lage allmählich an die Oberfläche zurück. Mein körperlicher und seelischer Zustand war erbärmlich. Die Spätfolgen des Vorabends verstärkten die desolate psychische Verfassung, ließen keinen klaren Gedanken zu. Ich ging in die Küche, stürzte zwei Tassen Kaffee hinunter, schnappte mir ein Brötchen, und verließ das Haus.
Mit meinen Eltern über die Situation zu sprechen, war undenkbar. Sie waren seit etlichen Jahren geschieden, meine Mutter hatte vor zwei Jahren erneut geheiratet. Seitdem lebten sie und ich mit ihrem neuen Mann zusammen in einem Einfamilienhaus. Vor der Bundeswehrzeit war es pausenlos zu Reibereien kleineren und größeren Ausmaßes gekommen. Ich war ein renitentes Kind und ein noch uneinsichtigerer Jugendlicher, völlig außer Kontrolle. Meine Schullaufbahn nahm zum Ende der Oberstufe ein jähes Ende, ich log, betrog, stahl. Mutter und Lebensgefährte waren hoffnungslos überfordert, das Klima zwischen uns geprägt von Misstrauen, fortgesetzten Enttäuschungen, Angst und Hilflosigkeit. Ich ging morgens aus dem Haus, vertrieb mir den Tag, kehrte erst in der Nacht zurück, schlich die Treppe in mein Zimmer hoch. Obwohl im gleichen Haus, sahen wir uns manchmal tagelang nicht. Das Verhältnis zwischen uns schien unwiederbringlich zerstört.
Was mein Vater trieb, wusste keiner so genau. Niemand aus der Familie konnte oder wollte mir sagen, wo er wohnte, ob und was er arbeitete, welche Ziele er verfolgte, ob er alleine lebte. Hin und wieder traf ich ihn bei meinen Großeltern an. Es war eine herzliche Begrüßung, er schien sich zu freuen, wenn er mich sah. Doch nach ein paar Minuten verlor er das Interesse, oder er wusste nichts mit mir anzufangen. Der Gedanke, mit ihm ein längeres Gespräch über Befindlichkeiten zu führen, war absurd.
Auch meine Großmutter war keine Option. Ich war sehr gerne bei ihr, war schon als Kind häufig nach der Schule dort gewesen, besuchte sie seit dem Tod meines Großvaters weiterhin oft. Reden konnte man mit ihr über vieles, doch konkrete Hilfe, wie ich sie brauchte, war hier nicht zu erwarten. Seit dem Tod ihres Mannes beschäftigte sie sich nur noch wenig mit den Widrigkeiten der Gegenwart.
Freunde, denen ich mich hätte anvertrauen können, gab es nicht. Da waren ein paar alte Bekanntschaften aus der Schulzeit, die Leute von der Band, und noch drei oder vier Typen aus der lokalen Musikszene, mit denen ich manchmal rumhing. Die meisten von ihnen waren wie ich durch das Raster der Normalität gefallen, Einzelgänger und Spinner, zu sehr mit sich selbst beschäftigt, als dass sie sich in jemand anderes hätten hineinversetzen können oder wollen. Irgendwie zog ich solche Außenseiter an und sie zogen mich an. Es waren Zweckbündnisse gegen eine Umgebung aus Spießbürgern, Technokraten und Karrieristen. Manchmal fühlten wir uns wie Verlierer, manchmal wie die Könige der Welt. Und immer hatten wir diese grenzenlose Wut im Bauch, die uns sprachlos und hart machte.
Die Druckerei öffnete erst um 18 Uhr. Hier lag ein Rettungsanker für die geschundene Seele, doch bis dahin waren es noch fünf Stunden. Es war so gut wie unmöglich, jemanden aus dem Umfeld des Begegnungszentrums außerhalb der Öffnungszeiten zu erreichen. Von einigen kannte ich nicht einmal den Nachnamen, geschweige denn eine Adresse oder Telefonnummer.
Von Hans wusste ich nur, dass er in einer heruntergekommenen Bauernkate am Fuße des Wiehengebirges lebte. Ein Telefon hatte er nicht, Strom nur gelegentlich.
Während der drei Jahre, die wir uns kannten, war ich nur einmal bei Hans gewesen. Es war eine durchzechte Nacht mit ein paar anderen Verlorenen und einem bunten Allerlei von Rauschmitteln der unterschiedlichsten Konsistenzen. Das Elektrizitätswerk hatte ihm gerade erst wieder die Versorgung gekappt. Wir saßen im Schein von Kerzen um einen abgenutzten Fliesentisch, der Boden um uns herum übersät von Kassetten, deren Label mehrfach überschrieben, überklebt, farblich gekennzeichnet waren. Hans war wie ausgewechselt. Wild gestikulierend, die Stimme erhoben, keinen Widerspruch zulassend, wühlte er in einem Berg von Demotapes, während er in einer fulminanten Brandrede den Untergang einer Ära wahrer Musikalität prophezeite. Band für Band landete in einem batteriebetriebenen Radiorecorder, wurde hektisch vor- oder zurückgespult, kurz angespielt, weitergespult, wieder angespielt. Hatte Hans die gesuchte Stelle erreicht, erhob er blitzartig den Zeigefinger, mahnte zu äußerster Ruhe und konzentriertem Zuhören. Einer verschüchterten Schulklasse gleich verstummten wir schlagartig, ergaben uns der Autorität dieses entfesselten Lehrers. Durchdringend sah er uns der Reihe nach an, prüfte uns. War das Ende des akustischen Exempels erreicht, suchte er nach einem neuen Band, räsonierte unterdessen weiter über die Verelendung der Rockmusikkultur, den Tod allen „Spirits“. Als ein Band begann zu leiern, verschwand er hektisch und kehrte mit einem Satz frischer Batterien zurück. Die nächste Kassette hatte ihre Heimat nicht, wie alle anderen, auf dem Fußboden. Hans holte sie aus der Schublade einer kleinen Kommode hervor und hielt sie hoch wie ein bedeutendes Artefakt. Das Label dieses Bandes war nicht zigfach überschrieben oder überklebt worden. Nichts zeugte von vielfachem Verwenden und Überspielen, wie es unter Musikern sonst üblich war. Zwischen dem Logo des Herstellers TDK und der mit 90 Minuten angegebenen Spielzeit stand auf einem jungfräulich weißen Etikett ein einziges in akribischer Druckschrift notiertes Wort: „Flight“.
Ehrfürchtig versenkte Hans das Tape im Rekorder, schloss behutsam die Klappe. Ein silbriges Glänzen in seinen Augen kündigte Tränen an. Niemand der Anwesenden musste noch zur Ruhe ermahnt werden. Längst war der autoritäre Lehrer zu einem allwissenden Gott erhoben, die Schüler zu einer Schar devoter Jünger bekehrt. Ein Moment andächtiger Stille. Der Gott drückte auf „Play“.
Das folgende Stück war eine Rockballade. Es war mit nichts zu vergleichen, was ich bislang aus diesem Genre kannte. Das Intro mit sanfter Basslinie und dezentem Schlagzeug floss in einen Strophenpart, wurde dort von den ersten Akzenten einer Rhythmusgitarre umgarnt. Als der Gesang einsetze, musste ich mehrfach schlucken. Die tiefe, treffsichere Stimme des Vortragenden hätte keines erklärenden Liedtextes bedurft; allein seine Intonation und sein bleischweres Timbre zeugten von der Seelenfolter einer unerfüllten Liebe. Seine Klage trieb die Band vor sich her. Gesang und Instrumente vereinigten sich zu einem anhaltenden Crescendo, erschufen einen Tsunami aus Druck und Schmerz, und ergossen sich in einen Refrain, dessen traurige Schönheit mich am ganzen Körper zittern ließ. Drei Mal noch überrollte diese Woge uns, bevor sie abebbte. Der Sänger verstummte, die Gitarren traten in den Hintergrund, nur noch ein weit entferntes Gewitter. Schlagzeug und Bass beruhigten sich, spielten wieder ihre Anfangssequenz. Als wäre nichts gewesen. Decrescendo. Fade out. Stille.
Das Klicken der Stop-Taste holte mich zurück an den Fliesentisch. Hans wischte sich mit seinem Ärmel die Tränen aus dem Gesicht. Die anderen klebten stumm und bewegungslos auf ihren Plätzen, als hätte ein Riese sie mit seinem Daumen in die Polster der alten Garnitur hineingepresst. Als wir wieder zu uns gekommen waren, begann Hans zu erzählen, ruhig und verschmitzt, wie ich es von ihm gewohnt war. Er sprach über die 70er Jahre, über seine Zeit als Mischer bei „Flight“, über das legendäre „Umsonst und draußen“, über das Touren, das Lebensgefühl, über Sehnsucht und Freiheit. Seine Augen begannen wieder zu glänzen, während er gedanklich zurück durch die Zeit reiste. Doch seine Stimme blieb konstant und gefasst, und ab und zu lächelte er.
In der Morgendämmerung machte ich mich zu Fuß auf den neun Kilometer langen Weg nach Hause. Sah, wie Menschen verschlafen zur Arbeit fuhren, die Gesichter hinter dem Steuer versteinert und leer. Sah Schüler, in berstenden Bussen an die Scheiben gepresst, Lebendtransporte in die Schlachthöfe der Nonkonformität. In der Innenstadt zogen zwei junge Bankangestellte an mir vorüber, schwenkende Koffer, energischer Gang, vollkommen gleich getaktet. Unablässig hatte ich „Flight“ im Ohr, dieses apokalyptische Requiem auf eine vergangene Liebe und eine vergangene Zeit. Jede Szene menschlicher Betriebsamkeit auf meinem Nachhauseweg legte sich als Dissonanzakkord über das Lied in meinen Kopf. Und als ich zu Hause angekommen war, wusste ich, ich war im falschen Jahrzehnt geboren.
Die Erinnerung an jene Nacht hatte etwas Beruhigendes, Tröstendes. Doch keines der aufsteigenden Bilder lieferte auch nur einen vagen Hinweis auf den Standort von Hans’ Behausung. Ich fuhr in einem Radius von drei oder vier Kilometern um eine vermutete Lage alle Straßen am Fuß des Berges ab, wendete am Ende von Sackgassen, überprüfte Hofeinfahrten, deren Länge nicht sofort den Blick auf das dahinter liegende Gebäude freigab. Drehte um, als ich mir sicher war, zu weit außerhalb zu sein, prüfte Seitenstraßen und Zuwege ein zweites Mal. Nichts – kein Haus, dass auch nur annähernd an die traurige Erscheinung des gesuchten herankam. Kein Bild, das auch nur entfernt ein heimeliges Gefühl von Wiedererkennen auslöste. Der einzige Erfolg, den ich nach zwei Stunden Suche verbuchen konnte, bestand darin, dem dröhnenden Kopf eine wohltuende Ablenkung verschafft zu haben. Ich fuhr zurück in die Stadt, lenkte den Wagen auf leeren den Parkplatz der Druckerei, stellte den Motor ab. Sah auf die Uhr am Armaturenbrett. Kurz vor vier. Ich kurbelte die Rückenlehne zurück, suchte mir eine möglichst bequeme Liegeposition und schloss die Augen.
Als ich erwachte, dämmerte es bereits. Die Uhr war auf kurz vor sieben vorgerückt. Ich setzte mich auf, sah mich um, orientierungslos, aber etwas erholt. Der Parkplatz hatte sich gefüllt. Keines der Fahrzeuge kam mir bekannt vor, auch Hans’ alter silberner Nissan war nicht auszumachen. In der Küche der Druckerei brannte Licht. Ich stellte die Rückenlehne wieder in eine aufrechte Position, blieb noch einen Moment im Wagen sitzen, wartete, bis ich halbwegs zu mir kam. Eine Spur dumpfer Benommenheit blieb, aber durch den Schlaf hatte der Kater seine feste Umklammerung gelöst und befand sich auf dem Rückzug. Nach dem zweiten Bier würde er sich nur noch mit einem leisen Pochen bemerkbar machen und am späteren Abend ganz verschwinden. Ich nahm mein Portemonnaie vom Beifahrersitz, verließ den Wagen, schloss ab, und machte mich auf den Weg um das Gebäude herum zur vorderen Eingangstür der Kneipe.
Bis auf zwei Gäste, die ich nicht kannte, war das Lokal leer. Für einen Samstagabend ohne Veranstaltung war das nichts Ungewöhnliches. An Wochenenden ohne Konzerte oder Lesungen verirrten sich nur wenige in die etwas außerhalb der Innenstadt gelegene Druckerei. Ein paar Stammgäste, die sich in den rustikaleren Pubs der Stadt nicht wohlfühlten, vereinzelt Kurgäste, die sich von dem üblichen Schwof und Gebaggere in den bevorzugten Läden der Reha-Patienten angewidert abwandten. Diese Abende flossen ruhig und unaufdringlich vor sich hin. Ich liebte sie, fühlte mich sicher, allein aber nicht einsam, wenn ich in der äußeren Ecke der Theke saß, die Tageszeitungen las und die Menschen beobachtete. Man konnte den ganzen Abend für sich bleiben; fast jeder nahm es wahr und respektierte es, wenn die Körpersprache des Gegenübers den Wunsch nach kommunikativer Abstinenz ausstrahlte. Und doch war es jederzeit möglich, sich in ein Gespräch am Tresen einzuklinken, dem Verlauf für eine Zeit zu folgen oder ihn sogar zu lenken, und sich anschließend wieder in eine Zone der Introversion zurückzuziehen. Niemand nahm Anstoß an diesen Brüchen in der Konversation – wer hier gelandet war und blieb, kannte sich aus in der Welt der Wunderlinge.
Leiser Jazz füllte den Raum. Meistens ließ sich bereits an Stil und Lautstärke der Musik erkennen, wer in der Kneipe gerade Dienst hatte. Die meisten Mitarbeiter brachten mangels vorhandener Auswahl ihre eigenen Tonträger mit. Zwischen experimentellem Jazz und kreischendem Metal wurde alles gespielt, die Nerven der Gäste manchmal arg strapaziert. Es kam vor, dass nach einem Schichtwechsel der Bedienung um 22 Uhr die Stimmung im Laden komplett kippte. Wenn säuselnde Klänge aus dem Hintergrund schlagartig durch brettharte Gitarrenriffs einer Band ersetzt wurden, deren Frontmann sich nicht Sänger, sondern Shouter nannte, bildete sich an der Kasse eine kleine Schlange von Zahlungswilligen. Der Laden leerte sich, es blieben nur die, denen aus unterschiedlichen Gründen jede Alternative für den Abend verbaut war. Geduldig ertrugen sie das musikalische Gemetzel, aber ihre Laune war dahin.
Ich hatte Glück. Das Stück von Klaus Doldingers „Passport“, das aus den Boxen kam, ließ sich ohne jeden Zweifel Karin zuordnen. Erleichtert steuerte die gewohnte Ecke an der Theke an, schob den Hocker lautstark ein Stück zurück und setzte mich. Karins Kopf erschien in der Küchentür. Ein routinierter Blick überflog den Raum, blieb schließlich an mir hängen. Halb mürrisch, halb freundlich begrüßte sie mich.
Ich mochte die Mittvierzigerin. Sie kam irgendwo aus dem Süden der Republik und war aus mir unerfindlichen Gründen in Bad Oeynhausen gestrandet. Ein zu kritischer, zu umtriebiger Geist für diese verschlafene Kurstadt. Ich hatte immer das Gefühl, sie sei auf der Durchreise, könnte bereits am nächsten Tag wieder weg sein. Ständig schien in ihr eine Art rheinischer Frohsinn gegen eine basale Unzufriedenheit zu kämpfen. Ihre Stimmung konnte innerhalb von Minuten mehrfach die Schattierung wechseln, je nach Auslöser von einem Extrem ins nächste springen. Wenn es in der Stadt nur ansatzweise einen Ort gab, an dem dieser Geist beschwerdefrei atmen konnte, dann war es hier.
Karin griff nach einem sauberen Glas, zapfte ein Bier an, und gesellte sich zu mir.
„Was ist denn mit dir passiert? Du siehst fürchterlich aus“, stellte sie lakonisch fest.
Dankbar, endlich einen Zuhörer gefunden zu haben, berichtete ich meine fatale Situation. Karin hörte konzentriert zu, gab sich betroffen und mitfühlend. Als mein Blick auf das halbvolle Bierglas unter dem Zapfhahn fiel, drehte sie sich um, füllte es fast bis zum Rand, kam zurück, wollte es vor mir abstellen. Ich nahm es ihr direkt ab, brauchte es sofort, ohne Zwischenstation auf einem Bierdeckel. Brauchte das kühle Versprechen in der Hand, das Versprechen auf schnelle Erlösung. Ich trank, setzte nicht ab, forderte noch während des Trinkens das nächste Bier. Das Medikament wirkte schnell. Bis auf das trockene Brötchen hatte ich den Tag über nichts gegessen, und der Alkohol des Vorabends konnte die Blutbahn noch nicht komplett verlassen haben; ich baute auf solidem Grund. Nachdem ich mit meiner Schilderung fertig war, sah Karin mich nachdenklich an.
„Ich weiß vielleicht jemanden, an den du dich wenden kannst. Hier im Haus trifft sich alle paar Wochen der DFG-VK. Das ist ein Verein von Kriegsdienstgegnern. Die beraten einen, wenn man den Wehrdienst verweigern will.“
„Aber ich bin schon Soldat. Und ich habe für vier Jahre unterschrieben. Da kann ich doch jetzt nicht mehr verweigern, das lassen die nie zu. Wie soll das gehen?“
„Versuch es.“
Sie ging zum anderen Ende der Theke, nahm sich von einem Stapel ausliegender Druckerei-Programmhefte das oberste Exemplar, und reichte es mir. Am Ende des Hefts, hinter den monatlichen Veranstaltungshinweisen, waren alle Gruppen aufgeführt, die regelmäßig Räumlichkeiten der Druckerei nutzten. SPD und Grüne, Ärzte gegen den Atomtod, einige Selbsthilfegruppen – alle Zusammenschlüsse, die sich dem linken oder alternativen Spektrum zuordneten, ließen sich hier antreffen. Ich kannte natürlich die Programmhefte, auch das kryptische Kürzel „Dfg-VK“ war mir nicht gänzlich fremd, doch Akronyme kamen mir grundsätzlich fade und kalt vor, meine Aufmerksamkeit flüchtete förmlich vor ihnen. Die ausgeschriebene Bezeichnung des Vereins las ich zum ersten Mal:
Deutsche Friedensgesellschaft – Vereinigte Kriegsdienstgegner
Der weitere Text besagte, dass sich die Gruppe jeden zweiten Samstag im Monat um 15 Uhr traf und eine Beratung für Kriegsdienstverweigerer und die, die es werden wollten, anbot. Abschließend war als Kontakt eine Telefonnummer angegeben. „Andreas“ stand hinter der Nummer.
Karin sah mich erwartungsvoll an. In ihrem Blick lag etwas Triumphierendes, Verschwörerisches, als hätten wir die erste Runde eines ungleichen Kampfes gerade für uns entschieden: Der Staat gegen Paul Thomsen. Ich fühlte, wie sich langsam etwas in mir regte, mich aufwachen und die schlaffen Muskeln anspannen ließ. Da war Hoffnung. Nicht viel, ein schwacher Schimmer, der sich jedoch mit einer Erkenntnis verband. Der Erkenntnis, dass ich in dieser Dunkelheit nicht mehr allein war. Karin ging zum Telefon, das neben der Küchentür an der Wand hing, nahm den Hörer ab, und hielt ihn in meine Richtung.
Ich hasste es, mit Fremden reden zu müssen, sie um etwas zu bitten. Meine Unsicherheit ließ mich jedes Mal wie ein debiler Depp oder wie ein arroganter Snob erscheinen. Das Medium Telefon machte es nicht besser; die fehlende Möglichkeit, den Anderen mithilfe seiner visuellen Erscheinung einschätzen zu können, ließ mich am Hörer erstarren wie das Kaninchen vor der Schlange. Wann immer ich konnte, vermied ich diese Art von Kontakten oder delegierte die unliebsame Aufgabe an jemand anderen.
Karins Blick machte mir unmissverständlich klar, dass Flucht oder Delegation nicht zur Wahl standen. Bevor meine Angst die zart aufkeimende Hoffnung endgültig niedertrampeln konnte, stand ich auf, ging hinter die Theke, nahm den Hörer ans Ohr und wählte die Nummer. Knacken in der Leitung. Freizeichen. Ich wartete, blieb dran, bis das träge Tuten in ein Besetztsignal überging. Dann legte ich auf, schwankend zwischen Erleichterung und Enttäuschung. Karin schien ebenfalls etwas enttäuscht, nickte mir aber aufmunternd zu.
Ich probierte es noch häufiger an jenem Abend. Der Gang zum Telefon fiel zunehmend leichter, vielleicht durch gewonnene Routine, vielleicht durch den Alkohol, wahrscheinlich war es eine Mischung aus beidem. Gegen 22 Uhr gab ich es auf. In der Kneipe war nach wie vor nicht viel los. Das Pärchen an der Theke war gegangen, drei oder vier Tische waren besetzt, die Gäste unterhielten sich leise, nippten genügsam an ihren Getränken. Noch vor Mitternacht war der Laden leer. Ich half Karin bei der Abrechnung und polierte Gläser, während sie die Tische abwischte. Vor der Tür verabschiedeten wir uns mit einer Umarmung. Sie ging Richtung Innenstadt. Ich blickte ihr kurz hinterher, drehte mich um, steuerte den Parkplatz an. „Viel Glück!“, hörte ich sie rufen, schon entfernt. Ich setzte mich ins Auto und fuhr nach Hause, bei weitem nicht so betrunken wie am Abend zuvor.
Die Sonntage während der Bundeswehrzeit besaßen ihren eigenen Schrecken. Schon immer waren mir diese Tage zuwider gewesen, an denen das Land vor sich hin dämmerte, aus seinem nächtlichen Schlaf überhaupt nicht aufzuwachen schien. Die Welt der Arbeitenden wollte ihre wohlverdiente Ruhe haben, in feiertäglicher Lethargie vor sich hin darben. Im Haus herrschte immer eine Totenstille, jede Aktion barg die Gefahr, als unverzeihlicher Störimpuls eine Welle von Vorwürfen und anhaltendem Missfallen nach sich zu ziehen. Meine Mutter werkelte meist in der Küche, bereitete das Essen für die nächsten Tage zu, bis man sie irgendwann die Treppe ins Obergeschoss hinaufgehen hörte, gefolgt vom Scheppern eines aufgebauten Bügelbretts. Mein Stiefvater saß häufig mit Kopfhörer vor seiner Stereoanlage, flüchtete in seine Jugendzeit, Bill Haley, Peter Kraus. Stocksteif saß er da, nur ein Fuß wippte. Es kam vor, dass in diesem Haus bis zum späten Nachmittag kein einziges Wort fiel.
Mit Beginn des Wehrdienstes hatten sich diese Sonntage für mich noch weiter verdüstert. Der erste Gedanke nach dem Aufwachen galt der abendlichen Fahrt zur Kaserne, 360 Kilometer entfernt. Wie ein Grabtuch legte sich dieser Gedanke über den toten Tag, hüllte ihn ganz ein. Er beherrschte mich während des Duschens, während des Zähneputzens, beim Frühstück, bei allem, was ich tat. Manchmal fuhr ich bereits am Nachmittag nach Rendsburg, hielt das stumpfe Sitzen und Grübeln zu Hause nicht mehr aus. Was Trostlosigkeit anging, stand die Kaserne dem Elternhaus in nichts nach, aber alles war besser, als auf das Unvermeidliche zu warten.
Mehrere Male hatte ich nach dem Aufstehen versucht, Andreas vom DFG-VK zu erreichen, ohne Erfolg. Ich saß in meinem Zimmer und starrte auf den Fernseher. Auf einem der noch jungen Privatsender übten sich zwei Moderatoren in gutgelaunter Lässigkeit, gaben in den Pausen zwischen zwei Musikvideos einstudierte Kalauer von sich. Sie wirkten in etwa so professionell wie der Vorsitzende eines Schützenvereins, der auf dem jährlichen Fest angesoffen auf die Bühne stolpert, sich ein Mikrofon schnappt und hölzern die nächste Tanzcombo ankündigt. Meine Mutter kam herein und stellte einen Wäschekorb mit gebügelter, akkurat zusammengelegter olivgrüner Kleidung auf den Sessel neben der Tür.
„Musst du nicht bald los?“
„Ja, ja, bin gleich weg.“
Ich verstaute die Uniformgarnituren in einer alten Reisetasche, warf ein paar Bücher obendrauf und schaltete den Fernseher aus. Sah mich ein letztes Mal im Zimmer um, vergewisserte mich, nichts vergessen zu haben. Es war ein seltsamer Raum, voller Utensilien, die Geschichten von den Stadien eines Älterwerdens erzählten, Kindheit und Jugend nebeneinander, konkurrierend, nicht harmonisch. Noch Spielzeugautos im Regal, doch langsam dezimierte sich der Fuhrpark, musste immer mehr weichen für ein Sortiment von Longdrinkgläsern. Wo einst über dem Bett Bilder Disney’schen Ententreibens für süße Kinderträume sorgten, prangerte seit einiger Zeit ein überdimensionales Poster die ganze Ungerechtigkeit des juvenilen Universums an. „Pink Floyd – The Wall“, wütende Typographie auf weißer Mauer. Nahezu alles in meinem Leben zog sich in die Länge, auch die Trotzphasen.
Mit geschulterter Tasche verließ ich mein Zimmer, verabschiedete mich knapp von meiner Mutter und machte mich auf den Weg nach Rendsburg. Die sonntägliche Autobahn war um diese fortgeschrittene Uhrzeit wenig frequentiert. Die meisten Tagesausflügler saßen schon wieder auf der Couch, Lkw waren nur vereinzelt unterwegs. Hinter Hamburg bekam die Strecke etwas Geisterhaftes. Zwischen Elbtunnel und dem Kreuz Rendsburg war ich bis auf zwei oder drei schnell überholende Fahrzeuge für mich in der Dunkelheit. Im Radio lief das „Club-Wunschkonzert“, Kult- und Kuppelsendung auf NDR 2 zum Ausklang des Wochenendes. Einsames Herz im Norden sucht ebensolches. Dazwischen Kuschelrock. Scorpions, „Still loving you“ für schmachtende Hörer in eskalierender Einsamkeit. Ich fühlte mich ihnen allen verbunden, allein auf der Autobahn.
Der Parkplatz vor der Kompanie war verwaist, im Gebäude nur wenige beleuchtete Fenster. Ich begegnete niemandem, als ich durch das Treppenhaus und über den Flur zu meinem Zimmer ging. Irgendwo war leise ein Fernseher zu hören. So würde es bleiben, bis spät in der Nacht der letzte Zug aus Hamburg-Altona den Bahnhof Rendsburg erreichte und seine verschlafene Ladung auf den Bahnsteig rotzte. Ich packte meine Tasche aus, setzte mich an den kleinen Tisch in der Stube, drehte eine Zigarette und schrieb einen Brief an meine Großmutter.