Prolog

1990.

Michail Gorbatschow wird Präsident der UdSSR.
Die Berliner Mauer wird endgültig abgerissen.
Der Zweite Irakkrieg beginnt.
Karl-Marx-Stadt wird zu Chemnitz.
The Wall – Auf dem Potsdamer Platz findet das größte Rockkonzert aller Zeiten statt.

In meinem Leben findet die erste Zäsur statt. Gerade zweiundzwanzig Jahre alt geworden, spüre ich noch deutlich die Nachbeben einer elendig langen Pubertät. Kein Loch, keinen Fallstrick, keine Blessur dieser Entwicklungsphase habe ich ausgelassen. Gekrönt wird sie durch eine Unterschrift. Der Formulartext über dieser Unterschrift besagt, dass ich mich mit ihr für vier Jahre an die Bundeswehr verkaufe. Höher könnte der Ausschlag auf dem Seismographen jugendlicher Hoffnungslosigkeit kaum sein.
Dann verändert sich etwas. An einem Tag im April liegen plötzlich neu gemischte Karten vor mir auf dem Tisch. Ich lege sie ungesehen für eine Zeit beiseite und pausiere das Spiel. Belohnt werde ich mit einem Sommer, der mit jedem Tag ein wenig Hoffnung und Zuversicht zurück ins Leben bringt.
Naheliegend, diesen Sommer als einen Ankerpunkt zu deklarieren, um den herum sich die Erinnerungen scharen. Erinnerungen, die aufgeschrieben werden möchten. Für mich, für meinen Sohn, für jede/n, die/den es interessieren mag.

1988 – The army now (1)

Paul Thomsen Bundeswehr

Am 04.07.1988 bestieg ich gegen 10 Uhr am Morgen einen Zug Richtung Norden, verließ ihn vier Stunden später am Bahnhof Neumünster, reihte mich in einen Trauermarsch ein, und fand mich wiederum zwei Stunden später auf einem langen Flur wieder. Ich trug einen unbequemen blauen Trainingsanzug aus einer Art Frotteegewebe. Zusammen mit ungefähr 30 anderen jungen Männern, mit denen ich in einer Reihe stand, müssen wir das Erscheinungsbild einer 1972er Olympiamannschaft abgegeben haben. Allein was mir fehlte, war die Zuversicht eines Athleten.
Ich war jetzt Teil der Streitkräfte der Bundesrepublik Deutschland.
Es hätte mich schlimmer treffen können, wenn man diese Behauptung in Bezug auf die Bundeswehr überhaupt aufstellen kann. Ich gehörte zum sogenannten Juli-Quartal, das zum größten Teil aus Abiturienten bestand, welche ihren Wehrdienst nur widerwillig und mit der festen Absicht absolvierten, möglichst bequem und unauffällig durch diese Zeit zu kommen. Der Truppenteil war eine Fernmeldeeinheit; nach allem, was man hörte, ein nahezu humanes Milieu innerhalb des Kosmos militärischer Stupidität und geistlosen Drills.

Die alles umfassende Sinnlosigkeit des Tagesablaufs gebar in mir anfangs eine angenehme Leere. Ein Vakuum, in dem jeder ernsthafte Gedanke im Klima schnellkeimender Verblödung unbemerkt absorbiert wurde. Wessen Intellekt das nicht bei Tageslicht gelang, der griff unmittelbar nach Dienstschluss in die gut sortierte Schnapsecke des Nato-Shops und beschenkte sich allabendlich in gleichgesinnter Runde mit einem zerebralen Nullabgleich. Der zuverlässig hohe Pegel an Restalkohol sorgte anderntags dafür, dass die tapferen Recken vom Morgenappell bis lange in den Nachmittag mit geröteten Augen und debiler Mimik durch einen fremdbestimmten Tag schwankten, Zombies mit Dienstgradabzeichen.
Ich hatte Glück mit den Zimmergenossen. Sieben Jungs, größtenteils aus dem Ruhrgebiet, mit moderatem Trinkverhalten und wohltuend zurückhaltenden Persönlichkeiten. Wir verbrachten die Abende mit Spielen wie „Risiko“, saßen um den kleinen Fernseher, den ich mitgebracht hatte, oder zogen uns mithilfe von Büchern zurück in virtuelle Privatgemächer.
Jeder Tag war ein Abziehbild des vorangegangenen. Morgens wurden wir im Gänsemarsch über das Kasernengelände geführt und sangen dazu „John Brown’s body lies a-mouldering in the grave. But his soul goes marching on“. Die Autonomisierung der Seele funktionierte in der Tat wunderbar: Hatte sich mein Körper erst einmal an den gleichförmigen Rhythmus stupiden Gehens gewöhnt und folgte ihm roboterhaft, erhob sich mein Inneres über die marschierende Truppe, schwebte vorfreudig Richtung Kasernentor, mit knappem Gruß vorbei an den Wachsoldaten Richtung Süden, passierte das Ortsausgangsschild Rendsburg und folgte der A7. Ließ unter sich die pulsierende hanseatische Metropole zurück, beschrieb über Hannover einen weiten Bogen nach Westen, und senkte sich über der kleinen Heimatstadt mit einem Seufzer der Erleichterung nieder. Schwebte durch blühende Rapsfelder, durch sommerliche Straßen, erkannte geliebte Gesichter. Setzte aus heilsamen Erinnerungen das Bild einer totalen Idylle zusammen, ein Puzzle aus Glück.
Bis sich die Extremitäten einer Menschmaschine vor oder hinter mir mit den meinen verhakten und dem desertierten Innenleben einen neuen Einberufungsbescheid zustellten. Dienstbeginn sofort, Widerspruch nicht möglich. Ich war aus dem Tritt gekommen.

Die Nachmittage waren eine Fortsetzung der morgendlichen Sinnlosigkeit mit anderen Mitteln. Töten von Zeit als Kriegshandwerk. Mit Pinsel, Spachtel, Rostschutzfarbe.
Die Lage: Einsatzfahrzeuge nach feindlichem Sperrfeuer erheblich beschädigt.
Der Befehl: Unverzügliche Instandsetzung.
Ich umkreiste meinen Unimog, dunkelgrünes Ungetüm mit Funkkabine. Er wirkte auf mich wie fünf Tage zuvor, als ich ihn das letzte Mal gestrichen hatte. Überhaupt war Feindeinwirkung eher unwahrscheinlich – war das Fahrzeug doch seit geraumer Zeit nicht aus der Halle bewegt worden.
Ich pinselte. Genoss die meditative Wirkung des Streichens. Wieder konnte ich meine Gedankenwelt auf den heimatlichen Sommer fokussieren und mich zwecks Rehabilitation unerlaubt von der Truppe entfernen. Für nichts hätte ich diese heilende Tätigkeit aus der Hand gegeben. Nicht für einen Apfel, nicht für zwölf Murmeln, nicht gegen eine tote Ratte. Tom Sawyer hatte es sich anders überlegt.
Wie ein Gefangener, der am Abend eine Kerbe für den verstrichenen Tag in die Zellenwand kratzt, markierte ich jede vergangene Sekunde mit einem Pinselstrich. Die Säufer hatten es sich auf Tarnnetzen bequem gemacht und versuchten, ihren Rausch auszuschlafen, bis sie erwischt wurden. Andere taten es mir gleich, waren in ihre eigenen Träume versunken, nur die langsame Auf- und Abwärtsbewegung der Hand zeugte von einer Art Leben. Einige wenige, die eine Karriere in diesem Club der Verlorenen geplant hatten, vollführten enthusiastisch und gewissenhaft ihr Tagwerk, erfüllt von der Befriedigung blinden Gehorsams.

Abendappell, Dienstschluss, Rückkehr in die Trostlosigkeit karger Unterkünfte. Unruhige Nächte in knarzenden Etagenbetten. Aufgeschreckt durch Lärm in der Mitte der Nacht. Meistens waren es bloß ein paar späte Rückkehrer aus der einzigen Diskothek im Ort. Frauenlos frustriert, das Verlangen weggesoffen, tanzend nur mit sich selbst, das letzte Bier noch in der Hand. Manchmal war es das markerschütternde Dröhnen von Metall auf Metall. Dann wussten wir, dass der Unteroffizier, der zwei Stockwerke unter uns mit einem Hammer auf einen Blecheimer einschlug, in wenigen Minuten unsere Etage erreichen würde. Das Spiel hieß Alarm, einen Gewinner gab es dabei nicht.
In der Nacht zum 12. Juni 1989 kam das Signal zum Spielbeginn direkt von der NATO. Es war der Tag, an dem der sowjetische Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow in Bonn mit Kanzler Kohl zusammentraf und das Ende des Kalten Krieges zementierte. „Zufall“, lautete im Nachhinein die lapidare Begründung, warum man ausgerechnet diesen Tag für eine größere Mobilmachung gewählt hatte.
Auf dem Flur übertönte ein gegrölter Befehl das Scheppern des bekannten Eimers. „ALAAARM. Zweiter Zug aufstehen. Appell vor dem Gebäude in zehn Minuten. MARSCH MARSCH“. „Marsch“ bedeutete schnelle Bewegung, „Marsch Marsch“ war das gefürchtete Kommando für Lichtgeschwindigkeit. Die Zimmertür wurde ruckartig geöffnet, durch halb geschlossene Augen konnte ich vor dem hell erleuchteten Flur den Schatten des Poltergeists wahrnehmen. Breitbeinige Lächerlichkeit. Eine Hand ging zum Lichtschalter. Die Neonröhren knackten warnend, ein kurzes Flackern, dann grelle Gnadenlosigkeit. Am oberen Ende der breitbeinigen Figur eine diabolisch grinsende Fratze, die jegliche Lächerlichkeit negierte. Sonargleich überflog ein geschultes Augenpaar die acht Betten, vergewisserte sich erster Lebenszeichen ihrer Inhaber, wandte sich mit selbstgefälligem Nicken ab, und verschwand. Zehn chaotische Minuten später stand der komplette Haufen verschlafenen Elends vor dem Kasernengebäude.
Die dritte Kompanie des Fernmeldebataillons 610 bestand aus 106 einfachen Soldaten, mehreren Unteroffizieren, drei Zugführern, dem stellvertretenden Kompaniechef und dem Kompaniechef. Inmitten dieses traurigen Ensembles stand ich an diesem nasskalten Junimorgen in einer Wolke aus Schnaps- und Tabakgestank, Schweißgeruch unter schalem Deodorant, Ausdünstungen von Schlaf. Einige Soldaten schwankten leicht, einige schliefen im Stehen ein. Die Unteroffiziere schritten nervös die erste Reihe ab, schoben den ein oder anderen Fuß zurück, dessen dösender Besitzer die imaginäre Linie der Ausrichtung missachtet hatte. Von der linken Seite kam ein gebrülltes „Achtung“. Ein hörbarer Ruck ging durch die Laienspielschar. Auftritt des Hauptdarstellers.
Hauptmann Gerster war kein großer Mann, in jeder Hinsicht. Er war vielleicht Mitte Dreißig, die Gesichtszüge eher weich und nichtssagend. Die zu groß geratene Brille mochte den Auftrag erhalten haben, Bildung zu demonstrieren. Schmale Schultern ließen den Torso unförmig erscheinen, wie einen halbvollen Sack Mehl, aufgespießt auf zwei Pfählen. Nichts Muskulöses, Drahtiges, Energisches war an diesem Mann. Wenn er aber die Reihen abschritt, passierte etwas mit dieser Erscheinung. Ich kannte diese Art des Schreitens, hatte sie in einer Dokumentation zu den Nürnberger Parteitagen der NSDAP gesehen. Ein leichter Stechschritt, die Hände locker ineinander über dem Rücken verschränkt, das Kinn erhöht, den Blick aufrecht gegen einen entfernten Horizont gerichtet. Der Mehlsack mutierte zum Herrenmenschen.
Gersters Rolle implizierte, dass er in dieser Pose die vor ihm aufgebaute Kompanie zweimal gemächlich abmarschierte, ohne ein Wort zu sagen. Tief in Gedanken, die ein oder andere Strategie abwägend. Schließlich baute er sich mittig vor uns auf, die Mimik jetzt entschlossen, streng, finster, fast bösartig. Er sprach leise, war sich bewusst, dass seine Stimme kippen würde, wenn er zu laut wurde. Ich hatte ihn ein einziges Mal die Fassung verlieren sehen. Dem hochroten Kopf war nur mehr ein Quietschen und Quäken entwichen, der winzige Mund hektisch nach Luft schnappend. Ein Karpfen im Stimmbruch.
„Die Lage: Rotland bündelt seit den späten Abendstunden starke Kräfte nördlich der Staatsgrenze der Bundesrepublik Deutschland auf dänischem Territorium. Mit feindlichem Vormarsch ist jederzeit zu rechnen. Der Befehl: Die dritte Kompanie des Fernmeldebataillons 610 bezieht zur Unterstützung eigener Kräfte und der dänischen Verbündeten Stellung unmittelbar nördlich der Landesgrenze auf dänischem Territorium. Kontakte mit der Zivilbevölkerung sind unbedingt zu vermeiden. Abmarsch Zehn Null Null Nato-Zeit.“
Im Staatsbürgerunterricht hatte man uns versichert, dass die strategischen Bezeichnungen „Blauland“ und „Rotland“ in ihrer Farbgebung völlig unwillkürlich gewählt worden seien. Die Farben seien als absolut neutral zu verstehen, Ähnlichkeit zu Symbolen bestehender militärischer Bündnisse sei zufällig und nicht beabsichtigt. Meine Frage, warum man dann nicht hin und wieder die Farben wechseln könne, um vielleicht als Lilaland ins Feld zu ziehen, brachte mir einen zusätzlichen nächtlichen Wachdienst ein.
Ein blauländischer Richtfunktrupp bestand aus sechs Soldaten und drei Unimogs. Das erste Fahrzeug trug die Funkkabine im Umfang einer Familiensauna, im Innenraum zwei Kommunikationsmonstren mit den Maßen stattlicher Kühlschränke. Auf der Ladefläche des nächsten Wagens fest montiert zwei Dieselaggregate zur Stromerzeugung. Das dritte Fahrzeug führte all das mit, was wir als „Geraffel“ bezeichneten: Zwei zusammensteckbare Antennenmasten, Spannseile, Flaschenzüge, Tarnnetze.
Aus mir nicht nachvollziehbaren Gründen hatte man mich kurzerhand zu einen Truppführer gemacht. So reihte sich der Trupp Thomsen in eine Kolonne von mehreren Dutzend Fahrzeugen ein und verließ unter Missachtung nahezu sämtlicher Verkehrsregeln die Stadt. Landesverteidigung hatte Vorfahrt.
Mir war nicht wohl angesichts der ungewohnten Verantwortung, die aus heiterem Himmel über mich hereingebrochen war. Immer wieder blickte ich in den Außenspiegel, mir Gewissheit verschaffend, dass meine neuen Schutzbefohlenen mir auch wirklich folgten. Nervös rutsche ich auf dem Fahrersitz hin und her, verriss fast das Lenkrad, fand die Gänge nicht. Dennoch beseelte mich das innere Bild eines guten, fürsorglichen und demokratischen Vorgesetzten. Es war meine feste Absicht, den von tumber Autorität geprägten Führungsstil des Militärs ad absurdum zu führen. Ich wollte beraten statt zu befehlen. Der Trupp Thomsen sollte zum Team Thomsen erblühen, leuchtendes Beispiel einer Führungskultur ohne Führer. Erst viele Jahre später wurde mir klar, dass blanke Versagensangst und eine tiefe Abneigung gegen jegliche Einschränkung durch Obrigkeit mich zu dieser absurden Spinnerei veranlassten.
Mein Beifahrer Jörg beschied mich mit einem spöttischen Lächeln, als ich ihm das Thomsensche Konzept Laissez-fairer Kriegsführung offenbarte. Jörg war ein linkischer Zwei-Meter-Zehn-Mensch, intelligent, friedliebend, phlegmatisch. Mit Jörg war kein Krieg zu gewinnen. Jörg hatte selber keine Antwort auf die Frage, welcher Teufel ausgerechnet ihn zur Bundeswehr geritten hatte. Jörg war ein Träumer und Pazifist. Und mein bester Freund in diesen Tagen.
Mit jedem Kilometer riss der Himmel ein Stück weiter auf. Die morgendliche Kühle wich einer wabernden Hitze. Dieselgestank vermischte sich mit den Ausdünstungen des abgenutzten Fahrzeuginterieurs zu einem schleichenden Narkotikum. Träge, gleich einem verschlafenen gepanzerten Wurm, bewegte sich die Kolonne auf der schnurgeraden Autobahn Richtung Norden. Die Tachonadel zitterte am rechten Anschlag, versuchte angestrengt, auf der 80 einen ruhenden Pol zu finden. Hin und wieder sah ich vor mir ein Fahrzeug gefährlich weit nach links oder rechts ausscheren und eine imaginäre Abfahrt nehmen, bis der Wagen ruckartig und schaukelnd zurück in die Reihe gerissen wurde. Januarquartal, dachte ich. Das Quartal der Arbeitslosen, der Nachtdurchmacher, der professionellen Trinker ohne Hoffnung, Stoßtrupp über die Promillegrenze. Mir selbst fielen in der Junisonne die Augen zu, der besorgte Beifahrer musste seine Stimme mehrfach über das monoton gebrummte Schlaflied des Motors erheben. Wach auf, Gefreiter.
Unser Ziel war Tondern, eine Kleinstadt fünf Kilometer hinter der deutsch-dänischen Grenze. Als wir drohend beflaggt, mit besetzten Maschinengewehren auf den Führerhäusern, in den Ortskern eindrangen und in männlicher Brutalität das pittoreske Bild eines kleinstädtischen Morgens entjungferten, wurde uns schlagartig klar, warum wir der Zivilbevölkerung aus dem Weg gehen sollten. Die fast ausschließlich älteren Einwohner, welche an diesem Vormittag in friedlicher Geschäftigkeit den Straßenrand säumten, verharrten in ihrer Fortbewegung, wandten sich uns zu, durch schwere Einkaufstaschen hängende Schultern eine Antithese zu unserer kraftstrotzenden Demonstration maskuliner Aggression. Mich überkam ein schlechtes Gewissen, ich versuchte, die Augen stur auf das Fahrzeug vor mir zu richten. Es war vergebens. Aus dem Augenwinkel nahm ich die Blicke der Passanten wahr. Ein Spektrum zwischen Unmut und Feindseligkeit. Von links eine erhobene Faust, von rechts ein Hitlergruß, verbitterte Botschaft an die neuen wie an die alten Invasoren.
Ich war heilfroh, als wir dieses Spalier erboster, höchst lebendiger Mahnmale hinter uns ließen. War dankbar, als kurz hinter dem Ortsausgang Halt angeordnet wurde, um neue Befehle entgegenzunehmen. Neue Befehle, das hieß Kopf ausschalten, Gedanken auf Gehorsam trimmen. Fruchtloser Boden für das schlechte Gewissen.
Mein Trupp erhielt die Aufgabe, an einem Waldrand etwas weiter nördlich eine Relaisstation zu errichten. Wir jubilierten innerlich – Relaisstation bedeutete vor allem eins: Ruhe. Durch entsprechendes Ausrichten zweier Antennen hatte man nichts anderes zu tun, als eine Funkstrecke von einem Gefechtsstand zu einem anderen zu verlängern. Man stand einsam verborgen in der Natur, ein winziger, unbezeichneter Punkt auf der taktischen Karte. Solange die durch den Äther geraunten Befehle zuverlässig von A nach B schwebten, blieb man unbehelligt, ein im Wald vergessenes Monument archaischer Technik.
Der für uns auf der Karte markierte Platz war ein idyllisches Fleckchen dänischer Abgeschiedenheit. An den Rand eines ausgedehnten Laubwaldes schmiegte sich eine Streuobstwiese, die an ihrem weit entfernten jenseitigen Ende durch ein beachtliches Gehöft begrenzt wurde. Der Rest der Szenerie ließ mich erahnen, dass die Bedeutung des Begriffs „Weitläufigkeit“ in Skandinavien eine andere war. Ich stand am Ende des Wirtschaftsweges, der uns zu diesem Paradies geführt hatte, und vergaß augenblicklich alle Erwartungen, die jemals an mich gestellt worden waren. Es war überwältigend.
Jemand legte mir von hinten eine Hand auf die Schulter, sanft, ohne Druck. Widerwillig drehte ich den Kopf und blickte hinauf in ein Augenpaar, dass in diesem Moment mein Innerstes spiegelte. Jörg, der Träumer, der Hüter der Langsamkeit, Soldat aus Versehen, holte mich in ein anderes Leben zurück. Er sprach leise, doch eine Nuance von Melancholie war unüberhörbar.
„Komm, lass uns aufbauen“.

1988 – The army now (2)

Der Aufbau lief gut. Meine Angst, der Führungsaufgabe und der damit verbundenen Verantwortung nicht gewachsen zu sein, erwies sich als unbegründet – ich musste schlicht nicht führen. Jeder wusste, was zu tun war, die Stimmung war fast ausgelassen, die kleine Choreografie eines hundertfach geprobten Stücks funktionierte. Nichts davon war mein Verdienst, als Regisseur war ich hier überflüssig. Und doch wich die anfängliche Unsicherheit einem leisen Stolz, dass dieser emsige, gutgelaunte Haufen meinen Namen trug. Trupp Thomsen.
Nach einer knappen Dreiviertelstunde erhoben sich am Waldrand in nachbarschaftlicher Eintracht zwei 17 Meter hohe Masten, jeweils gekrönt von einem grillrostartigen Dipol. Zwei der Fahrzeuge hatten wir vorsichtig in Schneisen zwischen den Bäumen untergebracht, der Kabinenwagen stand nahebei unter einem großen Kirschbaum. Tarnnetze ließen den kleinen Fuhrpark fast komplett vor fremden Blicken verschwinden. Die beiden Aggregate puckerten gemächlich vor sich hin. Ich saß in der Funkkabine, drehte an Reglern, kippte Schalter, versuchte, im ätherischen Rauschen einer entfernten Stimme gewahr zu werden. Nichts. Da war noch niemand. Wir waren die ersten. Ich platzte fast vor Selbstzufriedenheit.
Die Tage verstrichen nahezu ereignislos. Wir streiften allein oder zu mehreren durch die sommerlich dösende Landschaft, spielten Fußball, ergaben uns, im Gras liegend und gemächlich vorbeiziehende Wolken betrachtend, einer wohligen Langeweile. Jörg hatte sich mit Schlafsäcken und einer kleinen Bibliothek auf dem Dach der Funkkabine ein Refugium eingerichtet, Eremit mit literarischen Lager. Hin und wieder griff ein langer Arm in den Baum darüber, gefolgt von einem Geräusch, das an einen gezogenen Stöpsel erinnerte. Ein von einem unsichtbaren Katapult geschleuderter Kirschkern gehorchte dem Gesetz der Ballistik und landete neben seinen Artgenossen im Gras. Wie eine skurrile Sanduhr.
Bei einem unserer täglichen Streifzüge wagten wir uns auf den nahegelegenen Bauernhof. Der Besitzer begrüßte uns offen und freundlich, wie einkehrende Wanderer nach einer Tagestour. Er gehörte einer Altersgruppe an, die den expansiven deutschen Größenwahn nicht mehr am eigenen Leib zu spüren bekommen hatte. Eine Generation, welcher Kanzler Kohl auf deutscher Seite die „Gnade der späten Geburt“ bescheinigt hatte. Ließen sich Hände in Fettnäpfen rein waschen?
Mit den Früchten unseres deutsch-dänischen Annäherungsversuchs kehrten wir zum Trupp zurück. Frische Milch und ein Dutzend Eier waren eine willkommene Abwechslung zu dem meist undefinierbaren Einerlei, dass uns ein Fahrzeug der Feldküche einmal täglich vorbeibrachte. Zudem hatte uns der Landwirt angeboten, jederzeit eine in einem Anbau befindliche Dusche zu benutzen. So hatte uns diese Begegnung ein Ausmaß an Komfort eingebracht, das dem kargen und trostlosen Dasein eines Soldaten im Felde nur so spottete.
Nur einmal belästigte das militärische Übungsspektakel die Idylle unseres lindgrenschen Bullerbüs. Zu fortgeschrittener Nacht ließen mich vereinzelte Schüsse aus dem Schlaf hochschrecken. Ich setzte mich in der engen Bettstatt der Funkkabine unwillig auf und vernahm das Flüstern mehrerer Stimmen durch die halboffene Tür. Im schwachen Glimmen der Messinstrumente tauchten die Gesichter meiner Mitstreiter auf, ein Panoptikum mit Mienenspiel zwischen Überraschung, Ratlosigkeit und leichter Gereiztheit. Ich gesellte mich zu ihnen, erhöhte die Anzahl der Ratlosen um Eins. Die Schüsse, nun verstärkt durch kurze nervöse Salven, ließen uns ihre Verursacher in der Tiefe des Waldes hinter uns vermuten. Die vormals so zurückhaltenden Dieselaggregate schienen den Eindringlingen einen eindeutig zu lokalisierenden Willkommensgruß entgegenzubrüllen. Vier Augenpaare richteten sich auf mich, erwartungsvoll, eine Stellungnahme einfordernd. Ich wollte etwas erwidern, wollte dem kritischen Moment irgendwie seine Brisanz entziehen, vielleicht ein völlig überflüssiges „Ruhig bleiben“ von mir geben. In diesem Moment nahm ich aus dem Augenwinkel etwas Großes hinter mir wahr. Es lief, nein, es schnellte an mir und der Gruppe vorbei zwischen die Bäume, archaisch, brachial, ein wütendes Waldbiest mit Wasserkopf, in der Hand eine tödliche Lanze. Jemand warf dem Ungetüm den Strahl einer Taschenlampe in den Rücken, legte das atemberaubende Werk eines schizophrenen Malers frei. Der Gefreite Jörg Lehnhoff hatte sein ziviles Nachtgewand um einige militärische Utensilien erweitert. Das hellrosa Shirt und die Boxershorts mit Blümchenmuster wurden am oberen Ende von einem schief sitzenden Stahlhelm, am unteren Abschluss von zwei nicht geschnürten Soldatenstiefeln beeindruckender Größe eingefasst. Der Anblick erinnerte mich an die Schiebespiele der Kindheit, bei denen man durch das Variieren unterschiedlicher Köpfe, Torsi, und Beine skurrile Gestalten erschaffen konnte. Die vermeintliche Lanze entpuppte sich als das 1,22 Meter lange Maschinengewehr des Trupps, das Soldat Lehnhoff einhändig rechts am Körper führte, den Lauf gen Himmel.
Der schlaksige Jörg gab eine irre Mischung aus purem Slapstick und einem durchgedrehten Rambo ab, eine Frontkämpferkarikatur.
Die Bestie verschwand in Richtung der Schüsse im Wald. Geräusche berstenden Geästs wurden leiser, verflüchtigten sich schließlich völlig. Ein Moment fassungsloser Erstarrung, dann riss mich ein markerschütterndes Getöse jäh zurück in die Szenerie. Animalisches Gebrüll erfüllte die Nacht, entfesselt, urtümlich, ein Amok laufender brünftiger Elch mit einem Megafon. Auf das Gebrüll setzte sich ein anhaltendes Stakkato wütenden Maschinengewehrfeuers, schien seinen Urheber noch zu provozieren, dessen Rage in schwindelnde Höhen zu steigern.
Abrupt endete das Knattern des MG. Ich vernahm einen letzten Aufschrei zornigen Protests; vermutlich hatte die Länge des Patronengurtes auf der Zeitachse nicht mit dem Ausnahmezustand des Soldaten Lehnhoff mithalten können.
Die folgende Stille war nicht einfach Abwesenheit akustischer Ereignisse. Mir schien es, als hielte die Natur, eingeschüchtert von einer Urgewalt, den Atem an. Wir standen zu fünft am Waldrand, unter dem Eindruck der jüngsten Geschehnisse sprach- und bewegungslos. Selbst die beiden Dieselaggregate wagten lediglich ein unterdrücktes Summen. Zwischen den Bäumen trat der Gefreite Jörg Lehnhoff hervor, ganz pazifistische Versonnenheit. Nur ein kaum wahrnehmbares Stirnrunzeln verriet, dass offenbar irgendetwas an seiner Contenance gekratzt hatte. So stand er vor mir, Deus ex Machina, der für mich die Situation bereinigt hatte und mir damit gestattete, meine Inkompetenz für mich zu behalten. „Ich leg mich dann mal wieder hin“, konstatierte er lakonisch, lehnte das Maschinengewehr an das Kabinenfahrzeug, kletterte aufs Dach desselben und verschwand in seinem Reich. „Ja, äh, klar“, war alles, was ich ihm in meiner Verblüffung hinterherwerfen konnte.
Schüsse hörten wir in dieser Nacht nicht mehr.

1989 – The army now (3)

Bis zum Ende der Übung konnten wir unseren Campingurlaub unbehelligt fortsetzen. Bereits während der Rückfahrt nach Rendsburg unterwanderte ein neuer Gedanke meine bisherige Einstellung zur Bundeswehr. Vergessen war die Spießrutenfahrt durch eine dänische Kleinstadt. Verdrängt der wilhelminische Duktus, der mich in diesem Kosmos des Kasernenhofs unermüdlich piesackte und stach. Die frische Erfahrung unseres skandinavischen Pfadfinderlagers entfaltete ihre Wirkung. Eine olivgrüne Schlange säuselte, zischte mir unablässig Narrative unkomplizierter Männerfreundschaften, naturnahen Lebens, sicheren Auskommens ins unachtsame Ohr. Eine uniformierte Dauerexistenz lag auf einmal nicht nur im Bereich des Vorstellbaren; sie war wünschenswert geworden. Wo war der Unterschied zwischen dem rigiden Regime des Elternhauses und einem Alltag in der Armee?
Ich unterschrieb für vier Jahre, und mein Leben in der Bundeswehr änderte sich schlagartig. Ich war nicht länger ein Leidensgenosse jener, die es mehr oder weniger unfreiwillig hierher verschlagen hatte. In den Blicken meiner Zimmergenossen nahm ich eine neue Distanz wahr. Sie waren weiterhin freundlich und hilfsbereit, doch Zugewandtheit und Offenheit waren von einem Tag auf den anderen abhanden gekommen. Für sie gehörte ich nun zu den Peinigern. Selbst bei Jörg machte ich eine Veränderung aus. Die freundschaftliche Wärme, so schien es mir, wich einer Mischung aus Distanziertheit und Spott. Wieder und wieder tat er sein Entsetzen über meine Entscheidung kund, konfrontierte mich unablässig durch spitze Kommentare mit meiner eigenen Unfähigkeit und der unterdrückten Abneigung gegen den neuen Werdegang.
Die Verantwortung war nicht länger spielerisch, der Rückzug auf die Position eines einfachen Wehrdienstleistenden versperrt. Die nicht adäquate Frisur eines Truppsoldaten, nachlässig gereinigte Toiletten, Jörgs unaufgeräumter Spind – das Feld für Kritik an Mängeln innerhalb meines Zuständigkeitsbereiches war ein riesiges Minenfeld. Lächerlich und kleinlich kam ich mir vor, wenn ich andere auf ihr unkorrektes Äußeres hinwies. Jörg zu befehlen, das Chaos in seinem Schrank zu beseitigen, war ein Akt des Verrats an die Freiheitsliebe. Eine Selbstverleugnung. Erst das Umwandeln des Befehls in eine flehentliche Bitte ließ ihn mit dem Aufräumen beginnen. Er tat es, um mir Ärger zu ersparen, nicht aus Einsicht. Einsicht existiert bei der Bundeswehr nicht.
Ein neuer Balken zierte meine Schulterklappen: Gefreiter Unteroffiziersanwärter. Weithin sichtbares Stigma von Unterwerfung und Prostitution. Symbol für mindestens vier Jahre Freiheitsentzug. Ich versuchte, den neuen Dienstgrad nach außen hin mit Stolz und Größe zu präsentieren. Es gelang mir nicht. Längst hatte ich meine Entscheidung bereut, war angesichts der Ausweglosigkeit der Situation zutiefst unglücklich. Morgens blickte ich, bevor ich den Pullover anzog, lange auf den verhassten neuen Balken im Schulterbereich. Wenn ich das Kompaniegebäude zum Essen verließ, drehte ich die Dienstgradabzeichen um. Lieber riskierte ich eine gebrüllte Zurechtweisung von Vorgesetzten, als dass ich mich mit dem Stigma in der Öffentlichkeit zeigte.

Einige Wochen später begann der Unteroffizierslehrgang. Ich musste die gewohnte Umgebung verlassen und mein Quartier zusammen mit anderen Anwärtern in einem weiter entfernten Gebäude auf dem Gelände beziehen. Wieder zu acht in einem Zimmer, diesmal jedoch unterschieden sich die Mitbewohner grundlegend von meiner vorigen Wohngemeinschaft. Sieben stramme Jungs fieberten ihrer Ausbildung entgegen, jeder besessen von dem heißen Willen, der Beste zu sein. Gegenseitige Kontrolle beherrschte von Beginn an das Klima. Mit einer Mischung aus Missgunst und Blockwartmentalität wurden Betten, Spinde, Stiefel der anderen auf ihren Zustand kontrolliert, anfangs verstohlen, dann unverhohlen. Jeder wollte hervorstechen, in dieser Stube die Führung übernehmen, vor den Ausbildern glänzen. Besoffen von der Aussicht, bald Macht ausüben zu können, befreit von jedem Zweifel, mit stolzgeschwellter Brust, patrouillierten diese sieben Unteroffiziersanwärter durch den Raum. Noch nie hatte ich mich irgendwo so fehl am Platze gefühlt.
Der Alltag im Lehrgang lief ab wie eine verschärfte Zweitauflage der Grundausbildung. Es wurde in Reih und Glied marschiert, mit vollem Gepäck durch die Wildnis gelaufen und gekrochen, Waffen wurden demontiert und wieder zusammengesetzt. Der einzige Unterschied war, dass die Auszubildenden abwechselnd die Führungsrolle zu übernehmen hatten. Kommandos wurden eingeübt, vor allem an Lautstärke und Tonfall wurde gefeilt, eine Art Schrei- und Brüllseminar. Der Staatsbürgerkundeunterricht wurde in einer perfiden patriotischen Form fortgeführt, als Hohelied auf den bundesdeutschen Nationalstaat, seine Verbündeten, die NATO. Schwarz-Weiß-Denken intensivierte man in der bekannten rot-blauen Fassung, diesmal deutlicher: Westen gut, Ostblock böse. Damit es auch der letzte Trottel ganz sicher begriff. Jedes Mal, wenn wir den Unterricht hinter uns hatten, war uns klar, dass die russische Invasion unmittelbar bevorstand.

Jede freie Minute verbrachte ich mit den Jungs meiner alten Unterkunft. Freimütig berichtete ich von der Unerträglichkeit des Lehrgangs, schüttete mein Herz aus, kroch zu Kreuze und bereute offen bitterlich. Wie einen verlorenen Sohn nahmen sie mich wieder auf, leisteten Beistand, sorgten sich, redeten mir gut zu. Auch Jörg hatte mir offenbar vergeben; sein angenehmes phlegmatisches Wohlwollen mir gegenüber war zurückgekehrt. Häufig fuhren wir nach Dienstschluss an die Ostseeküste, nach Timmendorfer Strand oder Grömitz. Bis in die Nacht hinein lagen wir am Strand, hingen bei ein paar Flaschen Jever und ungezählten Zigaretten unseren Gedanken und Träumen nach. Sinnierten über eine Zukunft nach der Bundeswehr. In diesen Momenten blickte Jörg, für den diese Zukunft zum Greifen nah war, über das Meer zu einem entfernten Horizont, und seine Gelassenheit schien grenzenlos. Für mich waren es Augenblicke von tiefer Hoffnungslosigkeit und Verlorenheit. Vor mir lagen mehr als 1200 Tage Einsamkeit und Stumpfsinn.
Mein Verhalten den sieben anderen Unteroffiziersanwärtern gegenüber blieb natürlich nicht ohne Folgen. Vor allem die Tatsache, dass ich mich unmittelbar nach dem Dienst von ihnen absonderte und unter die „einfachen Rekruten“ begab, fassten sie als Hochverrat an der eigenen Kaste auf. Ich galt als Nestbeschmutzer, Renegat und Sonderling. Und natürlich bekamen sie mit, wie ich mich abfällig über den Lehrgang, seine Protagonisten und seine Teilnehmer äußerte. Man setzte mir nicht aktiv zu, es gab keine Anzeichen von offenem Mobbing (ein Begriff, den es noch nicht gab), Feindseligkeit, oder gar Sabotage. Der Prozess der Ausgrenzung verlief subtiler, er äußerte sich durch Ignoranz. Niemand schien zur Kenntnis zu nehmen, wenn ich das Zimmer betrat. Kein Nicken, kein kurzer Gruß, wenn ich einem von ihnen außerhalb des Lehrgangs begegnete. Äußerte ich mich einmal, war es, als hätte ich in einen leeren Raum hineingesprochen. Ich war Luft für sie, aber das hatte Vorteile. Niemand kontrollierte mehr, ob meine Stiefel geputzt, mein Bett korrekt gemacht, mein Spind aufgeräumt war. Niemand fragte mich nach einer Meinung zu irgendetwas oder lud mich zu einem abendlichen Kneipengang ein. Ich musste mich nicht verstellen, war unter sieben Menschen alleine für mich. Und verbrachte die Mahlzeiten und Abende weiterhin mit den alten Gefährten. Bis zum Tag ihres Abschieds.

Am letzten Freitag im September des Jahres 1989 stand ich morgens allein in der alten Stube und sah mich um. Der Raum war von jeglichem Leben verlassen. Weit geöffnete Spinde, leer, ausgefegt, erinnerten schon nicht mehr an ihre früheren Besitzer. Die Betten waren abgezogen, Stühle verkehrtherum auf die Tischplatte drapiert, der Boden an einigen Stellen noch feucht von einer finalen Reinigung. Durch die geöffneten Fenster ließ sich ein vielstimmiges, aufgeregtes Geschnatter wahrnehmen, hin und wieder von lautem Lachen übertönt. Ich war mir sicher, in diesem Wirrwarr Jörgs sonores Organ auszumachen und trat ans Fenster. Auf dem Parkplatz vor dem Kompaniegebäude herrschte ein geschäftiges Treiben. Wild und durcheinander, jede militärische Disziplin verhöhnend, standen über den Platz verteilt die Autos der frisch entlassenen Rekruten. Das Bild glich einem chaotischen Flohmarkt. Offene Fahrzeugtüren und Kofferräume. Neben und hinter den Fahrzeugen vollgestopfte Reisetaschen und Seesäcke. Fahrgemeinschaften wurden gebildet, über den Haufen geworfen, fanden sich neu. Überall junge Männer, einige lässig an Kotflügel gelehnt und entspannt rauchend, andere mit übergroßen Gepäckstücken kämpfend. Um jeden herum eine Aura der Befreiung und des Aufbruchs.
Ich erblickte Jörg. Er stand neben seinem alten Golf und zeigte auf einen gewaltigen Koffer, der offenbar im Inneren keinen Platz mehr fand. Jemand kam herüber, befreite ihn von dem Gepäckstück, und lud es in das eigene Fahrzeug. Die ersten Autos lösten sich aus dem Getümmel, bewegten sich unter lautem Hupen gemächlich Richtung Kasernentor. Man winkte sich zum Abschied zu. Bierflaschen wurden zum Gruß aus heruntergekurbelten Fenstern gehalten und geschwenkt. Jörg sah sich um, schien nach jemandem Ausschau zu halten. Schließlich machte er mich aus, wie ich im dritten Stock des Kompaniegebäudes am Fenster seiner alten Unterkunft stand. Er winkte mir auffordernd zu, bedeutete mir, ich solle hinunterkommen. Mit einem leichten Kopfschütteln verneinte ich. Es war unvorstellbar, mich ihm und den anderen in diesem desolaten Zustand zu zeigen. Bereits jetzt musste ich ununterbrochen schlucken, spürte Tränen kommen. Ich hob den Arm zu einem letzen Gruß und wandte mich ab. Sah aus dem Augenwinkel noch, wie Jörg einstieg, die Tür schloss. Dann war es vorbei.
Über den leeren Flur ging ich zurück in das eigene Zimmer, dass mir nach dem Lehrgang zugewiesen worden war – eine kleine Bude in der gleichen Etage, ohne Blick auf den Parkplatz. Stille herrschte im Gebäude. Diejenigen, deren Wehrdienstzeit noch nicht beendet war, waren bereits auf dem Weg ins Wochenende. Lustlos, zutiefst frustriert, warf ich meine Reisetasche aufs Bett und verstaute meine Schmutzwäsche. Ließ mir Zeit beim Packen, wollte draußen auf keinen Fall eventuellen Nachzüglern begegnen. Ging noch einmal zurück in die alte Stube, sah verstohlen aus dem Fenster. Auf dem Parkplatz nur noch ein einsames Fahrzeug, mein kleiner schwarzer Fiat mit Mindener Kennzeichen. Ich verließ das Gebäude und stieg in meinen Wagen. Fuhr als letzter Soldat der 3. Kompanie des Fernmeldebataillons 610 ins Wochenende Richtung Heimat.

1986/1990 – Das Mekka der Planlosen

Das „Begegnungszentrum Druckerei“ war ein typisches Kulturzentrum, wie sie Ende der 70er Jahre in vielen kleinen und mittelgroßen Orten aus engagierten Bürgerinitiativen entstanden waren. Der Zauber des Aufbruchs, die Euphorie des Widerstands gegen das muffige Kulturleben einer Kleinstadt, das erhebende Gefühl, „Macher“ zu sein – davon war in den ausgehenden 80ern nicht mehr viel zu spüren. Bei den Kulturschaffenden zeigten sich Ermüdungserscheinungen. Nächte überdauernde Grundsatzdebatten zwischen Merlot und Manifesten, Zigarillos und Zukunftsvisionen an klebrigen Runden Tischen hatten den Leuchttürmen alternativer Kultur ihr Fundament entzogen und sie zu unstet flackernden Laternen geschrumpft.
Ein böses Wort machte die Runde unter den Beteiligten. Anfangs hinter vorgehaltener Hand, dann zunehmend lauter: Pragmatismus.
Noch im selben Jahr sollten die weniger idealistisch veranlagten Protagonisten ein weiteres, ungeheuerliches Substantiv aus dem Hut zaubern: Der Ruf nach „Gewinn“ traf all jene bis ins Mark, die sich bislang exzessiven Träumereien einer freien, anspruchsvollen Kultur von Unten hingegeben hatten. Wo jetzt noch an Samstagabenden experimentelle Jazzklänge im Veranstaltungssaal drei Besucher zu intellektuellem Stirnrunzeln und forschem Fußwippen veranlassten („vor kleinem, aber interessiertem Publikum“, schrieb die lokale Presse), sollten schon bald prall gefüllte Stuhlreihen für volle Kassen sorgen. Man versprach sich einiges davon, das Angebot im Hinblick auf die doch eher kleinbürgerliche Oeynhausener Mehrheit zu profanisieren.
Ein tiefer Riss ging durch den Vorstand des Vereins. Einige stellten sich auf die Seite des betriebswirtschaftlich denkenden Vorsitzenden, andere scharten sich um den Hauptamtlichen Pädagogischen Mitarbeiter. Die zukünftige Richtung blieb für lange Zeit unklar, der Selbstfindungsprozess wurde zum Selbstzweck.

Ich hatte die Druckerei zum ersten Mal 1986 betreten. Der Laden bot jungen lokalen Bands eine Bühne für die erste Konfrontation mit einem Publikum, das nicht nur aus Freunden oder Familie bestand. Als Bassist einer dieser Bands stand ich eines Samstagnachmittags mit Instrumentenkoffer und einem schwachbrüstigen Verstärker in der Kneipe des Begegnungszentrums.
Die Luft war erfüllt vom Gestank kalten Rauchs und abgestandenen Biers. Aus zwei übergroßen, unter der Decke hängenden Lautsprechern dröhnten Bachs Brandenburgische Konzerte. Schmierige Gläser und ein Dutzend überstrapazierte Aschenbecher säumten einen abgenutzten Tresen. Auf den Tischen weitere Gläser, manche noch mit einem Rest Flüssigkeit. Durch eine großflächige Fensterfront bahnten sich Sonnenstrahlen einen Weg. Trübe Scheiben und hängende Schwaden konnten sie nicht davon abhalten, die sträfliche Vernachlässigung dieses Gastraumes anzuprangern. Zu sehen war niemand.
Unschlüssig stand ich in der Mitte des Raumes. Nervosität gewann zunehmend die Überhand über die arrogante Attitüde des sich selbst überschätzenden Kleinstadtmusikers. Eine sorgfältig von Profis kopierte Fassade, die ich mir als Mantel für meine Unsicherheit zurechtgelegt hatte, löste sich unter dem Bach’schen Cembalohagel in Staub auf. Meine Hände wurden feucht, nass, der schwere Basskoffer drohte mir aus den Fingern zu gleiten. Ich wollte mich umdrehen, die Kneipe schnell verlassen, auf dem sicheren Parkplatz auf die anderen Mitglieder der Band warten.
Da sah ich ihn. Im Türrahmen hinter dem Tresen lehnte eine Gestalt, wie ich sie mir als Kind einer pathologisch hygieneversessenen Mutter nicht abstoßender hätte vorstellen können. Als erstes nahm ich einen Wollpullover wahr, in Farben und Muster aus der Zeit gefallen, ein gestrickter LSD-Trip. Rote Karos, eingerahmt von grellem Grün, Hand in Hand tanzend mit undefinierbaren, bunten geometrischen Formen. Seit der Hippiebewegung musste jährlich mindestens ein Loch, ein dunkler Fleck, ein Brandmal dazugekommen sein. Vor diesem Pullover eine Hand, glänzend schmierig, wie in Altöl getaucht. Unter den Fingernägeln schwarze Halbmonde. Zu einem O geformt, umfassten Daumen und Zeigefinger eine Nadel, an deren Ende der qualmende Stummel einer filterlosen Zigarette aufgespießt war. Angeekelt, fasziniert, folgte ich mit den Augen der Hand, die sich gemächlich aufwärts bewegte. Lange, vereinzelt gekräuselte Haare am faltigen Hals kündigten einen formlosen Zottelbart an, der sich nicht auf eine Farbe festlegen wollte; wie die erstaunlich langen, trotzig aufgerichteten Relikte des vorderen Deckhaars. Alles irgendwo zwischen Braun, Grau, Blond. Über der linken Schulter lag wie eine schlafende Schlange ein dunkelbrauner, mit Gummiband gebändigter Zopf. Der Mann mochte Ende Dreißig sein, wäre aber ebenso gut als jenseits der Fünfzig durchgegangen.
Aus dem verhärmten Gesicht wurde mein Blick erwidert. Seelenruhig musterte die Gestalt mich aus zu Schlitzen zusammengekniffenen Augen. Vermutlich war diese Mimik nur Resultat der absurd kurzen Kippe zwischen seinen Lippen, deren Fahne den Raucher distanzlos umhüllte. Ich interpretierte sie als Misstrauen.

Mein Verhalten Fremden gegenüber war schon immer von Schüchternheit, wenn nicht sogar Ängstlichkeit geprägt. Begegnete mir jemand mit natürlichem Selbstvertrauen, zog sich mein Intellekt schlagartig in eine dunkle Kammer zurück, schlug die Tür zu und schob von innen einen Riegel vor. Durch einen winzigen Spalt unter der Tür wurde mein Bewusstsein spärlich mit dem Nötigsten versorgt: einem kindlich-naiven Wortschatz, schockgefrosteter Physiognomie, dezimierter Reizaufnahme. Ich muss in diesen Momenten das Bild eines leicht unterbelichteten, hilflosen Individuums abgegeben haben, das zu nichts wirklich zu gebrauchen ist. Bis heute bestimmt dieses Gefühl von Hilflosigkeit und eingeschränkter Handlungsfähigkeit den Verlauf aller Begegnungen, für die ich noch keine Routine entwickeln konnte. Bis heute versuche ich, diese Art Begegnungen zu vermeiden.

Der Mann aus dem Türrahmen setzte sich in Bewegung. Er ging hinter die Theke, griff nach etwas für mich Unsichtbarem. Der Lautstärkepegel der Musik nahm gemächlich ab, erreichte schließlich das unaufdringliche Niveau eines Kaffeehauses. Die wohltuende Ruhe löste meine Starre, ließ mich etwas entspannen. Ich setzte mein Gepäck ab, steuerte auf den Tresen zu und brachte ein zaghaftes „Hallo“ hervor, das durch ein knappes Nicken erwidert wurde.
„Tach. `N Bier?“ Grenzenlos erleichtert über diese Offerte, bejahte ich und setzte mich auf einen der Hocker vor der Theke. Alkohol war seit einigen Jahren meine bevorzugte Wahl, wenn es darum ging, den Dämon sozialen Versagens auf unbekanntem Terrain im Zaum zu halten. Nach drei, vier Bier fiel zuverlässig jede Unsicherheit von mir ab, der Puls beruhigte sich merklich, ich wurde aufnahmefähig und konzentriert. Konversation war nicht länger ein verkrampfter Versuch, mutmaßlichen Erwartungen des Gegenübers gerecht zu werden. Was sich im nüchternen Zustand anfühlte wie ein Verhör, ein In-die-Zange-genommen-werden, wandelte sich zu einer rhetorischen Spielwiese. Voller Freude über diese frisch erworbene, grundlegende Kompetenz zwischenmenschlicher Verständigung, wagte ich mich dann sogar auf das Feld kommunikativer Kür: Humor, Empathie, Schlagfertigkeit. Und es gelang, für eine kurze Zeit. Eine, maximal zwei Stunden. Bis eine Überdosierung der Droge die neue Fähigkeit so schnell nahm, wie sie gekommen war.
Mein Gastgeber stellte ein großzügig gefülltes Halbliterglas vor mir ab, zauberte ein zweites hinter dem Tresen hervor, hielt es auffordernd in meine Richtung. Wir stießen an. „Hans. Wirt, Koch, und euer Techniker für heute Abend, wenn du zur Band gehörst, wie ich mal annehme“. Aus der Nähe wirkte er noch ungepflegter, vernachlässigter. Der Kopf ein einziger verwahrloster Kräutergarten. In diesem Kopf setzte sich, wie zum Trotz, ein Augenpaar gegen seine traurige Umgebung zur Wehr. Hellwach, voller Energie, sprühte es Intelligenz, Witz, und eine gutmütige Verschlagenheit in die Welt. Dieser Mann war mir auf Anhieb sympathisch.
„Paul, Bassist“.
Es stellte sich heraus, dass Hans ebenfalls Bass spielte. Er erzählte von seiner Band, die aus Mitgliedern der Druckerei bestand und gelegentlich im eigenen Haus auftrat. Gespräche unter Musikern folgen in der Regel dem gleichen Schema wie die Kommunikation unter Liebhabern aller Genres, seien es Motorradfahrer oder Münzsammler. Man bewirft sich mit Fachbegriffen, gibt ein wenig an, versucht, Kenntnisse und Fähigkeiten seines Gegenübers auf der eigenen Fertigkeitsskala einzuordnen. Welche Saiten bevorzugst du? Spielst du Fretless? Röhre oder Transistor? Effekte oder clean?
Hans schien sich nichts aus dieser Prozedur gegenseitigen Beschnupperns zu machen. Er legte eine offene Packung Tabak auf den Tresen, drehte sich eine Zigarette und funkelte mich listig an. „Bist du Bassist oder Musiker?“
Ich verstand die Frage nicht. Für mich waren Bassisten eine Teilmenge der Musiker, ich war folglich beides. Mein Unverständnis schien ihn zu amüsieren. Er steckte sich die fertige Zigarette an, nahm einen tiefen Zug. „Nochmal: Bist du Bassist oder Musiker?“ insistierte er. „Beides natürlich“, war alles, was mir als Antwort einfiel. Er nickte wissend, grinste mich an, und wir ergaben uns in einen Wirt-Gast-Dialog über Belanglosigkeiten.
Nach und nach trudelten weitere „Drucker“ ein. Thekenpersonal, Programmplaner, Mitglieder, deren Tätigkeitsbereich ich nicht ermitteln konnte. Sie alle waren daran zu erkennen, wie selbstverständlich und routiniert sie sich innerhalb der Räumlichkeiten bewegten. Nicht hektisch, nicht zielstrebig, so als überlegten sie während des Gehens, was sie als nächstes tun wollten. Es war eine Atmosphäre ruhiger Geschäftigkeit, völlig entspannt. Doch über allem lag auch eine Nuance von Ungeordnetheit. Jemand ging in die Küche, kam wieder heraus, schüttelte den Kopf, ging zurück. Ein anderer verschwand durch eine seitliche Tür im Saal, nur um einen kurzen Moment später durch eine andere Tür wieder in den Kneipenraum zurückzukehren. Es hatte etwas von einem Mäuselabyrinth.
Ich saß, mittlerweile beim vierten Bier angekommen, immer noch am Tresen. Niemand interessierte sich für mich, jeder war mehr oder minder beschäftigt. Hans war ein paar Minuten im Saal verschwunden. Die allgemeine Nichtbeachtung erschien mir freundlich, hatte nicht den bitteren Beigeschmack von Ignoranz oder Xenophobie. Ich konnte hier einfach sitzen, unbehelligt und akzeptiert, gehörte in diese Szenerie wie ein altes Möbelstück. Über dieses neue Gefühl legte sich sanft die klärende Wirkung des Alkohols, die Dosierung war perfekt, die Metamorphose abgeschlossen. Hier wollte ich sein, nirgends anders.
Gegen 18 Uhr tauchten meine Mitmusiker auf. Weder für sie noch für mich war überraschend, dass mein Gedächtnis den Aufbautermin zwei Stunden vorverlegt hatte. Der Programmverantwortliche, der an diesem Abend für uns zuständig war, geleitete uns in den Saal, begutachtete mit uns die Bühne, und wir bauten unser Equipment auf.
Die Zeit zwischen Aufbau und der letzten Zugabe erlebte ich als einen durchgängigen Rauschzustand. Während des Soundchecks nahm ich mich noch entfernt wahr, hörte mich spielen, vernahm gerade noch die eigene Stimme, die über das Mikrofon Rückmeldungen an den Tontechniker gab. „Bitte den Bass auf dem rechten Monitor etwas lauter. Noch ein bisschen. Ja, so ist gut“. Hans war am anderen Ende des Saales fast komplett hinter einem riesigen Mischpult verschwunden, das offensichtlich ein Eigenbau war. Von der Bühne aus wirkte es wie ein aufgestocktes Bett aus der Gründerzeit. Ein massives Stück dunklen Holzes, das jemand im Wahn mit Hunderten von Reglern und Buchsen bestückt hatte. An der mir zugewandten Seite prangte ein großer Aufkleber: HaLi-Sound. Und hier reißt der Faden. Irgendwann muss sich der Saal gefüllt haben. In den ersten Reihen des Publikums vermutlich Freunde, gute Bekannte, Klassenkameraden. Wohlgesinnte, Mutmacher. Das Konzert muss ganz ordentlich gewesen sein – zumindest berichteten die anderen Bandmitglieder am nächsten Tag von mehreren Zugaben, die verlangt worden waren. Nach dem Abbau und Verstauen des Equipments und einem letzten Getränk waren sie wohl zügig nach Hause gefahren, hundemüde nach gelöster Anspannung.
Mein Bewusstsein gesellte sich erst wieder zu mir, als ich allein am Tresen saß. Hinter der Theke polierte eine Frau, die ich noch nicht gesehen hatte, Gläser. Leiser Bar Jazz tauchte den Raum in die Stimmung eines ausgehenden Sommerabends. Die Thekenfrau nickte in Richtung einer vor mir stehenden Bierflasche. „Noch eins, Paul?“ Ich reichte ihr die leere Flasche und bejahte, verwirrt, dass sie meinen Namen kannte. Hinter mir schloss jemand eine Tür. Ich drehte mich um, sah Hans aus dem Saal auf mich zukommen. Er setzte sich neben mich und wir bekamen beide eine Flasche Budweiser. Unsere Wirtin packte ihre Sachen zusammen, verabschiedete sich von uns, und ging.
Wir saßen bis in die frühen Morgenstunden zu zweit nebeneinander an der Theke, redeten über Musik, über Träume, über das Leben, über Rückschläge und Erfolge, über die Vergangenheit und die Zukunft. Über uns. Ich hatte das Gefühl, zum allerersten Mal in meinem Dasein irgendwo angekommen zu sein. Ernstgenommen zu werden. Einen winzig kleinen Teil dieser Welt zu begreifen. Überhaupt irgend etwas zu begreifen. Mit diesem Mann hier zu sitzen und zu reden, war wie das erste Öffnen eines Fensters in die Welt des Erwachsenseins. Und als ich mich in der Morgendämmerung auf den Weg nach Hause machte, war mir klar, dass es, wenn man ein ganz ordentlicher Bassist ist, noch lange nicht bedeutet, dass man auch ein guter Musiker ist.

Ab jenem Tag wurde die Druckerei eine Heimat für mich. Nicht die zweite Heimat, sondern die erste und einzige. Bereits in der Woche darauf saß ich fast jeden Abend am Tresen, beobachtete das bunte, leicht chaotische Treiben, lernte Gäste und Akteure kennen, fieberte den Abenden entgegen, an denen Hans wieder Dienst an der Theke haben würde. Bei größeren Veranstaltungen half ich aus, wo ich konnte und durfte. Baute im Saal Stuhlreihen auf oder ab, räumte Tische ab, spülte Gläser. Als nach einigen Wochen der Zauber des Neuen verflog, war ich bereits so weit integriert, dass meiner notorischen Sprunghaftigkeit jegliche Intervention versperrt war. Wie in einer idealen Liebesbeziehung war das anfängliche Verliebtsein übergegangen in ein zuverlässiges, befriedigendes Zusammensein. Ich respektierte und wurde respektiert. Ich nahm und ich gab. Ich half und mir wurde geholfen. Und ich war glücklich.

1989 – The army now (4)

ADHS Autobiographie Bundeswehr Begegnungszentrum Druckerei

Rendsburg, den 01.10.1989

Liebe Omi,
es ist Sonntagabend und ich sitze allein in meiner Stube in der Kaserne. Vor 4 Stunden war ich noch zu Hause, gestern Abend um diese Zeit war ich noch mit meinen Freunden zusammen in der Druckerei. Hier in Rendsburg habe ich jetzt keine Freunde mehr. Alle sind vorgestern nach Hause gefahren und sie werden auch nicht wiederkommen, weil ihr Wehrdienst jetzt beendet ist. Es ist so ruhig hier. Sonst war es am Sonntagabend immer so, dass alle nach und nach hier ankamen, mit der Bahn oder ihrem Auto. Dann haben wir uns noch für ein oder zwei Stunden zusammen hingesetzt und über das Wochenende zu Hause geredet. Die Stimmung war nie besonders gut, weil alle natürlich lieber zu Hause geblieben wären. Aber immerhin waren wir zusammen und konnten reden. Jetzt ist alles anders, und ich glaube, ich halte das nicht mehr aus. Es ging bisher nur, weil ich hier Freunde gefunden habe. Und die sind jetzt weg. Morgen will ich mit dem Kompaniechef sprechen und eine heimatnahe Versetzung beantragen. Wenn ich den Rest meiner Bundeswehrzeit in Minden oder Bückeburg stationiert werden kann, dann könnte ich jeden Tag nach Hause fahren. Ich hoffe so sehr, dass das klappt! Wenn sie sich nicht drauf einlassen, weiß ich wirklich nicht mehr weiter.
Ich gehe jetzt ins Bett und versuche zu schlafen.
Habe dich lieb
Paul

Zu den schrecklichsten Momenten im Leben zählen jene, in denen einem klar wird, dass es nicht nur schlimmer kommen kann, sondern unweigerlich schlimmer kommen wird. Als ich am Freitagabend nach dem endgültigen Abschied meiner Freunde aus Rendsburg in der Druckerei saß und mich betrank, fühlte ich nichts anderes als eine alles umfassende Hoffnungslosigkeit. Mein Denken wurde gelenkt und beherrscht von der unumstößlichen Tatsache, am Montag meinen Dienst in einer Umgebung antreten zu müssen, die mir nun noch fremder und feindseliger vorkam als bereits zuvor. Eine Schraubzwinge schien die verbleibenden Stunden in der Heimat zwischen Ankunft und Abfahrt immer schneller zusammenzupressen. 22 Uhr, 23 Uhr, Mitternacht, schon Samstag. Die Uhr hinter der Theke hatte dem neuen Tag schon zwei Stunden entrissen, als sich zwei Gäste lautstark für den kommenden Montag am gleichen Ort verabredeten und mir damit den finalen Stoß versetzten. Ich trank weiter, trank an gegen die Zeit, gegen die Fakten, gegen die ganze Welt.
Am Samstag gegen Mittag wachte ich schwer verkatert auf. Der vergangene Abend war aus meinem Gedächtnis ausradiert, die Gründe des Besäufnisses lagen noch unter einer sämigen Soße aus Restalkohol und Schlaftrunkenheit verborgen, dem Bewusstsein gnädig für einen kurzen Moment entzogen. Mein kleiner Fiat stand vor dem Haus; ich musste noch gefahren sein. Das Fahrzeug meiner Eltern war nicht zu sehen, ich war folglich allein im Haus. Während ich unter der Dusche stand, kehrte das Wissen um meine ausweglose Lage allmählich an die Oberfläche zurück. Mein körperlicher und seelischer Zustand war erbärmlich. Die Spätfolgen des Vorabends verstärkten die desolate psychische Verfassung, ließen keinen klaren Gedanken zu. Ich ging in die Küche, stürzte zwei Tassen Kaffee hinunter, schnappte mir ein Brötchen, und verließ das Haus.
Mit meinen Eltern über die Situation zu sprechen, war undenkbar. Sie waren seit etlichen Jahren geschieden, meine Mutter hatte vor zwei Jahren erneut geheiratet. Seitdem lebten sie und ich mit ihrem neuen Mann zusammen in einem Einfamilienhaus. Vor der Bundeswehrzeit war es pausenlos zu Reibereien kleineren und größeren Ausmaßes gekommen. Ich war ein renitentes Kind und ein noch uneinsichtigerer Jugendlicher, völlig außer Kontrolle. Meine Schullaufbahn nahm zum Ende der Oberstufe ein jähes Ende, ich log, betrog, stahl. Mutter und Lebensgefährte waren hoffnungslos überfordert, das Klima zwischen uns geprägt von Misstrauen, fortgesetzten Enttäuschungen, Angst und Hilflosigkeit. Ich ging morgens aus dem Haus, vertrieb mir den Tag, kehrte erst in der Nacht zurück, schlich die Treppe in mein Zimmer hoch. Obwohl im gleichen Haus, sahen wir uns manchmal tagelang nicht. Das Verhältnis zwischen uns schien unwiederbringlich zerstört.
Was mein Vater trieb, wusste keiner so genau. Niemand aus der Familie konnte oder wollte mir sagen, wo er wohnte, ob und was er arbeitete, welche Ziele er verfolgte, ob er alleine lebte. Hin und wieder traf ich ihn bei meinen Großeltern an. Es war eine herzliche Begrüßung, er schien sich zu freuen, wenn er mich sah. Doch nach ein paar Minuten verlor er das Interesse, oder er wusste nichts mit mir anzufangen. Der Gedanke, mit ihm ein längeres Gespräch über Befindlichkeiten zu führen, war absurd.
Auch meine Großmutter war keine Option. Ich war sehr gerne bei ihr, war schon als Kind häufig nach der Schule dort gewesen, besuchte sie seit dem Tod meines Großvaters weiterhin oft. Reden konnte man mit ihr über vieles, doch konkrete Hilfe, wie ich sie brauchte, war hier nicht zu erwarten. Seit dem Tod ihres Mannes beschäftigte sie sich nur noch wenig mit den Widrigkeiten der Gegenwart.
Freunde, denen ich mich hätte anvertrauen können, gab es nicht. Da waren ein paar alte Bekanntschaften aus der Schulzeit, die Leute von der Band, und noch drei oder vier Typen aus der lokalen Musikszene, mit denen ich manchmal rumhing. Die meisten von ihnen waren wie ich durch das Raster der Normalität gefallen, Einzelgänger und Spinner, zu sehr mit sich selbst beschäftigt, als dass sie sich in jemand anderes hätten hineinversetzen können oder wollen. Irgendwie zog ich solche Außenseiter an und sie zogen mich an. Es waren Zweckbündnisse gegen eine Umgebung aus Spießbürgern, Technokraten und Karrieristen. Manchmal fühlten wir uns wie Verlierer, manchmal wie die Könige der Welt. Und immer hatten wir diese grenzenlose Wut im Bauch, die uns sprachlos und hart machte.
Die Druckerei öffnete erst um 18 Uhr. Hier lag ein Rettungsanker für die geschundene Seele, doch bis dahin waren es noch fünf Stunden. Es war so gut wie unmöglich, jemanden aus dem Umfeld des Begegnungszentrums außerhalb der Öffnungszeiten zu erreichen. Von einigen kannte ich nicht einmal den Nachnamen, geschweige denn eine Adresse oder Telefonnummer.
Von Hans wusste ich nur, dass er in einer heruntergekommenen Bauernkate am Fuße des Wiehengebirges lebte. Ein Telefon hatte er nicht, Strom nur gelegentlich.

Während der drei Jahre, die wir uns kannten, war ich nur einmal bei Hans gewesen. Es war eine durchzechte Nacht mit ein paar anderen Verlorenen und einem bunten Allerlei von Rauschmitteln der unterschiedlichsten Konsistenzen. Das Elektrizitätswerk hatte ihm gerade erst wieder die Versorgung gekappt. Wir saßen im Schein von Kerzen um einen abgenutzten Fliesentisch, der Boden um uns herum übersät von Kassetten, deren Label mehrfach überschrieben, überklebt, farblich gekennzeichnet waren. Hans war wie ausgewechselt. Wild gestikulierend, die Stimme erhoben, keinen Widerspruch zulassend, wühlte er in einem Berg von Demotapes, während er in einer fulminanten Brandrede den Untergang einer Ära wahrer Musikalität prophezeite. Band für Band landete in einem batteriebetriebenen Radiorecorder, wurde hektisch vor- oder zurückgespult, kurz angespielt, weitergespult, wieder angespielt. Hatte Hans die gesuchte Stelle erreicht, erhob er blitzartig den Zeigefinger, mahnte zu äußerster Ruhe und konzentriertem Zuhören. Einer verschüchterten Schulklasse gleich verstummten wir schlagartig, ergaben uns der Autorität dieses entfesselten Lehrers. Durchdringend sah er uns der Reihe nach an, prüfte uns. War das Ende des akustischen Exempels erreicht, suchte er nach einem neuen Band, räsonierte unterdessen weiter über die Verelendung der Rockmusikkultur, den Tod allen „Spirits“. Als ein Band begann zu leiern, verschwand er hektisch und kehrte mit einem Satz frischer Batterien zurück. Die nächste Kassette hatte ihre Heimat nicht, wie alle anderen, auf dem Fußboden. Hans holte sie aus der Schublade einer kleinen Kommode hervor und hielt sie hoch wie ein bedeutendes Artefakt. Das Label dieses Bandes war nicht zigfach überschrieben oder überklebt worden. Nichts zeugte von vielfachem Verwenden und Überspielen, wie es unter Musikern sonst üblich war. Zwischen dem Logo des Herstellers TDK und der mit 90 Minuten angegebenen Spielzeit stand auf einem jungfräulich weißen Etikett ein einziges in akribischer Druckschrift notiertes Wort: „Flight“.
Ehrfürchtig versenkte Hans das Tape im Rekorder, schloss behutsam die Klappe. Ein silbriges Glänzen in seinen Augen kündigte Tränen an. Niemand der Anwesenden musste noch zur Ruhe ermahnt werden. Längst war der autoritäre Lehrer zu einem allwissenden Gott erhoben, die Schüler zu einer Schar devoter Jünger bekehrt. Ein Moment andächtiger Stille. Der Gott drückte auf „Play“.
Das folgende Stück war eine Rockballade. Es war mit nichts zu vergleichen, was ich bislang aus diesem Genre kannte. Das Intro mit sanfter Basslinie und dezentem Schlagzeug floss in einen Strophenpart, wurde dort von den ersten Akzenten einer Rhythmusgitarre umgarnt. Als der Gesang einsetze, musste ich mehrfach schlucken. Die tiefe, treffsichere Stimme des Vortragenden hätte keines erklärenden Liedtextes bedurft; allein seine Intonation und sein bleischweres Timbre zeugten von der Seelenfolter einer unerfüllten Liebe. Seine Klage trieb die Band vor sich her. Gesang und Instrumente vereinigten sich zu einem anhaltenden Crescendo, erschufen einen Tsunami aus Druck und Schmerz, und ergossen sich in einen Refrain, dessen traurige Schönheit mich am ganzen Körper zittern ließ. Drei Mal noch überrollte diese Woge uns, bevor sie abebbte. Der Sänger verstummte, die Gitarren traten in den Hintergrund, nur noch ein weit entferntes Gewitter. Schlagzeug und Bass beruhigten sich, spielten wieder ihre Anfangssequenz. Als wäre nichts gewesen. Decrescendo. Fade out. Stille.
Das Klicken der Stop-Taste holte mich zurück an den Fliesentisch. Hans wischte sich mit seinem Ärmel die Tränen aus dem Gesicht. Die anderen klebten stumm und bewegungslos auf ihren Plätzen, als hätte ein Riese sie mit seinem Daumen in die Polster der alten Garnitur hineingepresst. Als wir wieder zu uns gekommen waren, begann Hans zu erzählen, ruhig und verschmitzt, wie ich es von ihm gewohnt war. Er sprach über die 70er Jahre, über seine Zeit als Mischer bei „Flight“, über das legendäre „Umsonst und draußen“, über das Touren, das Lebensgefühl, über Sehnsucht und Freiheit. Seine Augen begannen wieder zu glänzen, während er gedanklich zurück durch die Zeit reiste. Doch seine Stimme blieb konstant und gefasst, und ab und zu lächelte er.
In der Morgendämmerung machte ich mich zu Fuß auf den neun Kilometer langen Weg nach Hause. Sah, wie Menschen verschlafen zur Arbeit fuhren, die Gesichter hinter dem Steuer versteinert und leer. Sah Schüler, in berstenden Bussen an die Scheiben gepresst, Lebendtransporte in die Schlachthöfe der Nonkonformität. In der Innenstadt zogen zwei junge Bankangestellte an mir vorüber, schwenkende Koffer, energischer Gang, vollkommen gleich getaktet. Unablässig hatte ich „Flight“ im Ohr, dieses apokalyptische Requiem auf eine vergangene Liebe und eine vergangene Zeit. Jede Szene menschlicher Betriebsamkeit auf meinem Nachhauseweg legte sich als Dissonanzakkord über das Lied in meinen Kopf. Und als ich zu Hause angekommen war, wusste ich, ich war im falschen Jahrzehnt geboren.

Die Erinnerung an jene Nacht hatte etwas Beruhigendes, Tröstendes. Doch keines der aufsteigenden Bilder lieferte auch nur einen vagen Hinweis auf den Standort von Hans’ Behausung. Ich fuhr in einem Radius von drei oder vier Kilometern um eine vermutete Lage alle Straßen am Fuß des Berges ab, wendete am Ende von Sackgassen, überprüfte Hofeinfahrten, deren Länge nicht sofort den Blick auf das dahinter liegende Gebäude freigab. Drehte um, als ich mir sicher war, zu weit außerhalb zu sein, prüfte Seitenstraßen und Zuwege ein zweites Mal. Nichts – kein Haus, dass auch nur annähernd an die traurige Erscheinung des gesuchten herankam. Kein Bild, das auch nur entfernt ein heimeliges Gefühl von Wiedererkennen auslöste. Der einzige Erfolg, den ich nach zwei Stunden Suche verbuchen konnte, bestand darin, dem dröhnenden Kopf eine wohltuende Ablenkung verschafft zu haben. Ich fuhr zurück in die Stadt, lenkte den Wagen auf leeren den Parkplatz der Druckerei, stellte den Motor ab. Sah auf die Uhr am Armaturenbrett. Kurz vor vier. Ich kurbelte die Rückenlehne zurück, suchte mir eine möglichst bequeme Liegeposition und schloss die Augen.
Als ich erwachte, dämmerte es bereits. Die Uhr war auf kurz vor sieben vorgerückt. Ich setzte mich auf, sah mich um, orientierungslos, aber etwas erholt. Der Parkplatz hatte sich gefüllt. Keines der Fahrzeuge kam mir bekannt vor, auch Hans’ alter silberner Nissan war nicht auszumachen. In der Küche der Druckerei brannte Licht. Ich stellte die Rückenlehne wieder in eine aufrechte Position, blieb noch einen Moment im Wagen sitzen, wartete, bis ich halbwegs zu mir kam. Eine Spur dumpfer Benommenheit blieb, aber durch den Schlaf hatte der Kater seine feste Umklammerung gelöst und befand sich auf dem Rückzug. Nach dem zweiten Bier würde er sich nur noch mit einem leisen Pochen bemerkbar machen und am späteren Abend ganz verschwinden. Ich nahm mein Portemonnaie vom Beifahrersitz, verließ den Wagen, schloss ab, und machte mich auf den Weg um das Gebäude herum zur vorderen Eingangstür der Kneipe.
Bis auf zwei Gäste, die ich nicht kannte, war das Lokal leer. Für einen Samstagabend ohne Veranstaltung war das nichts Ungewöhnliches. An Wochenenden ohne Konzerte oder Lesungen verirrten sich nur wenige in die etwas außerhalb der Innenstadt gelegene Druckerei. Ein paar Stammgäste, die sich in den rustikaleren Pubs der Stadt nicht wohlfühlten, vereinzelt Kurgäste, die sich von dem üblichen Schwof und Gebaggere in den bevorzugten Läden der Reha-Patienten angewidert abwandten. Diese Abende flossen ruhig und unaufdringlich vor sich hin. Ich liebte sie, fühlte mich sicher, allein aber nicht einsam, wenn ich in der äußeren Ecke der Theke saß, die Tageszeitungen las und die Menschen beobachtete. Man konnte den ganzen Abend für sich bleiben; fast jeder nahm es wahr und respektierte es, wenn die Körpersprache des Gegenübers den Wunsch nach kommunikativer Abstinenz ausstrahlte. Und doch war es jederzeit möglich, sich in ein Gespräch am Tresen einzuklinken, dem Verlauf für eine Zeit zu folgen oder ihn sogar zu lenken, und sich anschließend wieder in eine Zone der Introversion zurückzuziehen. Niemand nahm Anstoß an diesen Brüchen in der Konversation – wer hier gelandet war und blieb, kannte sich aus in der Welt der Wunderlinge.
Leiser Jazz füllte den Raum. Meistens ließ sich bereits an Stil und Lautstärke der Musik erkennen, wer in der Kneipe gerade Dienst hatte. Die meisten Mitarbeiter brachten mangels vorhandener Auswahl ihre eigenen Tonträger mit. Zwischen experimentellem Jazz und kreischendem Metal wurde alles gespielt, die Nerven der Gäste manchmal arg strapaziert. Es kam vor, dass nach einem Schichtwechsel der Bedienung um 22 Uhr die Stimmung im Laden komplett kippte. Wenn säuselnde Klänge aus dem Hintergrund schlagartig durch brettharte Gitarrenriffs einer Band ersetzt wurden, deren Frontmann sich nicht Sänger, sondern Shouter nannte, bildete sich an der Kasse eine kleine Schlange von Zahlungswilligen. Der Laden leerte sich, es blieben nur die, denen aus unterschiedlichen Gründen jede Alternative für den Abend verbaut war. Geduldig ertrugen sie das musikalische Gemetzel, aber ihre Laune war dahin.
Ich hatte Glück. Das Stück von Klaus Doldingers „Passport“, das aus den Boxen kam, ließ sich ohne jeden Zweifel Karin zuordnen. Erleichtert steuerte die gewohnte Ecke an der Theke an, schob den Hocker lautstark ein Stück zurück und setzte mich. Karins Kopf erschien in der Küchentür. Ein routinierter Blick überflog den Raum, blieb schließlich an mir hängen. Halb mürrisch, halb freundlich begrüßte sie mich.
Ich mochte die Mittvierzigerin. Sie kam irgendwo aus dem Süden der Republik und war aus mir unerfindlichen Gründen in Bad Oeynhausen gestrandet. Ein zu kritischer, zu umtriebiger Geist für diese verschlafene Kurstadt. Ich hatte immer das Gefühl, sie sei auf der Durchreise, könnte bereits am nächsten Tag wieder weg sein. Ständig schien in ihr eine Art rheinischer Frohsinn gegen eine basale Unzufriedenheit zu kämpfen. Ihre Stimmung konnte innerhalb von Minuten mehrfach die Schattierung wechseln, je nach Auslöser von einem Extrem ins nächste springen. Wenn es in der Stadt nur ansatzweise einen Ort gab, an dem dieser Geist beschwerdefrei atmen konnte, dann war es hier.
Karin griff nach einem sauberen Glas, zapfte ein Bier an, und gesellte sich zu mir.
„Was ist denn mit dir passiert? Du siehst fürchterlich aus“, stellte sie lakonisch fest.
Dankbar, endlich einen Zuhörer gefunden zu haben, berichtete ich meine fatale Situation. Karin hörte konzentriert zu, gab sich betroffen und mitfühlend. Als mein Blick auf das halbvolle Bierglas unter dem Zapfhahn fiel, drehte sie sich um, füllte es fast bis zum Rand, kam zurück, wollte es vor mir abstellen. Ich nahm es ihr direkt ab, brauchte es sofort, ohne Zwischenstation auf einem Bierdeckel. Brauchte das kühle Versprechen in der Hand, das Versprechen auf schnelle Erlösung. Ich trank, setzte nicht ab, forderte noch während des Trinkens das nächste Bier. Das Medikament wirkte schnell. Bis auf das trockene Brötchen hatte ich den Tag über nichts gegessen, und der Alkohol des Vorabends konnte die Blutbahn noch nicht komplett verlassen haben; ich baute auf solidem Grund. Nachdem ich mit meiner Schilderung fertig war, sah Karin mich nachdenklich an.
„Ich weiß vielleicht jemanden, an den du dich wenden kannst. Hier im Haus trifft sich alle paar Wochen der DFG-VK. Das ist ein Verein von Kriegsdienstgegnern. Die beraten einen, wenn man den Wehrdienst verweigern will.“
„Aber ich bin schon Soldat. Und ich habe für vier Jahre unterschrieben. Da kann ich doch jetzt nicht mehr verweigern, das lassen die nie zu. Wie soll das gehen?“
„Versuch es.“
Sie ging zum anderen Ende der Theke, nahm sich von einem Stapel ausliegender Druckerei-Programmhefte das oberste Exemplar, und reichte es mir. Am Ende des Hefts, hinter den monatlichen Veranstaltungshinweisen, waren alle Gruppen aufgeführt, die regelmäßig Räumlichkeiten der Druckerei nutzten. SPD und Grüne, Ärzte gegen den Atomtod, einige Selbsthilfegruppen – alle Zusammenschlüsse, die sich dem linken oder alternativen Spektrum zuordneten, ließen sich hier antreffen. Ich kannte natürlich die Programmhefte, auch das kryptische Kürzel „Dfg-VK“ war mir nicht gänzlich fremd, doch Akronyme kamen mir grundsätzlich fade und kalt vor, meine Aufmerksamkeit flüchtete förmlich vor ihnen. Die ausgeschriebene Bezeichnung des Vereins las ich zum ersten Mal:
Deutsche Friedensgesellschaft – Vereinigte Kriegsdienstgegner
Der weitere Text besagte, dass sich die Gruppe jeden zweiten Samstag im Monat um 15 Uhr traf und eine Beratung für Kriegsdienstverweigerer und die, die es werden wollten, anbot. Abschließend war als Kontakt eine Telefonnummer angegeben. „Andreas“ stand hinter der Nummer.
Karin sah mich erwartungsvoll an. In ihrem Blick lag etwas Triumphierendes, Verschwörerisches, als hätten wir die erste Runde eines ungleichen Kampfes gerade für uns entschieden: Der Staat gegen Paul Thomsen. Ich fühlte, wie sich langsam etwas in mir regte, mich aufwachen und die schlaffen Muskeln anspannen ließ. Da war Hoffnung. Nicht viel, ein schwacher Schimmer, der sich jedoch mit einer Erkenntnis verband. Der Erkenntnis, dass ich in dieser Dunkelheit nicht mehr allein war. Karin ging zum Telefon, das neben der Küchentür an der Wand hing, nahm den Hörer ab, und hielt ihn in meine Richtung.
Ich hasste es, mit Fremden reden zu müssen, sie um etwas zu bitten. Meine Unsicherheit ließ mich jedes Mal wie ein debiler Depp oder wie ein arroganter Snob erscheinen. Das Medium Telefon machte es nicht besser; die fehlende Möglichkeit, den Anderen mithilfe seiner visuellen Erscheinung einschätzen zu können, ließ mich am Hörer erstarren wie das Kaninchen vor der Schlange. Wann immer ich konnte, vermied ich diese Art von Kontakten oder delegierte die unliebsame Aufgabe an jemand anderen.
Karins Blick machte mir unmissverständlich klar, dass Flucht oder Delegation nicht zur Wahl standen. Bevor meine Angst die zart aufkeimende Hoffnung endgültig niedertrampeln konnte, stand ich auf, ging hinter die Theke, nahm den Hörer ans Ohr und wählte die Nummer. Knacken in der Leitung. Freizeichen. Ich wartete, blieb dran, bis das träge Tuten in ein Besetztsignal überging. Dann legte ich auf, schwankend zwischen Erleichterung und Enttäuschung. Karin schien ebenfalls etwas enttäuscht, nickte mir aber aufmunternd zu.
Ich probierte es noch häufiger an jenem Abend. Der Gang zum Telefon fiel zunehmend leichter, vielleicht durch gewonnene Routine, vielleicht durch den Alkohol, wahrscheinlich war es eine Mischung aus beidem. Gegen 22 Uhr gab ich es auf. In der Kneipe war nach wie vor nicht viel los. Das Pärchen an der Theke war gegangen, drei oder vier Tische waren besetzt, die Gäste unterhielten sich leise, nippten genügsam an ihren Getränken. Noch vor Mitternacht war der Laden leer. Ich half Karin bei der Abrechnung und polierte Gläser, während sie die Tische abwischte. Vor der Tür verabschiedeten wir uns mit einer Umarmung. Sie ging Richtung Innenstadt. Ich blickte ihr kurz hinterher, drehte mich um, steuerte den Parkplatz an. „Viel Glück!“, hörte ich sie rufen, schon entfernt. Ich setzte mich ins Auto und fuhr nach Hause, bei weitem nicht so betrunken wie am Abend zuvor.

Die Sonntage während der Bundeswehrzeit besaßen ihren eigenen Schrecken. Schon immer waren mir diese Tage zuwider gewesen, an denen das Land vor sich hin dämmerte, aus seinem nächtlichen Schlaf überhaupt nicht aufzuwachen schien. Die Welt der Arbeitenden wollte ihre wohlverdiente Ruhe haben, in feiertäglicher Lethargie vor sich hin darben. Im Haus herrschte immer eine Totenstille, jede Aktion barg die Gefahr, als unverzeihlicher Störimpuls eine Welle von Vorwürfen und anhaltendem Missfallen nach sich zu ziehen. Meine Mutter werkelte meist in der Küche, bereitete das Essen für die nächsten Tage zu, bis man sie irgendwann die Treppe ins Obergeschoss hinaufgehen hörte, gefolgt vom Scheppern eines aufgebauten Bügelbretts. Mein Stiefvater saß häufig mit Kopfhörer vor seiner Stereoanlage, flüchtete in seine Jugendzeit, Bill Haley, Peter Kraus. Stocksteif saß er da, nur ein Fuß wippte. Es kam vor, dass in diesem Haus bis zum späten Nachmittag kein einziges Wort fiel.
Mit Beginn des Wehrdienstes hatten sich diese Sonntage für mich noch weiter verdüstert. Der erste Gedanke nach dem Aufwachen galt der abendlichen Fahrt zur Kaserne, 360 Kilometer entfernt. Wie ein Grabtuch legte sich dieser Gedanke über den toten Tag, hüllte ihn ganz ein. Er beherrschte mich während des Duschens, während des Zähneputzens, beim Frühstück, bei allem, was ich tat. Manchmal fuhr ich bereits am Nachmittag nach Rendsburg, hielt das stumpfe Sitzen und Grübeln zu Hause nicht mehr aus. Was Trostlosigkeit anging, stand die Kaserne dem Elternhaus in nichts nach, aber alles war besser, als auf das Unvermeidliche zu warten.

Mehrere Male hatte ich nach dem Aufstehen versucht, Andreas vom DFG-VK zu erreichen, ohne Erfolg. Ich saß in meinem Zimmer und starrte auf den Fernseher. Auf einem der noch jungen Privatsender übten sich zwei Moderatoren in gutgelaunter Lässigkeit, gaben in den Pausen zwischen zwei Musikvideos einstudierte Kalauer von sich. Sie wirkten in etwa so professionell wie der Vorsitzende eines Schützenvereins, der auf dem jährlichen Fest angesoffen auf die Bühne stolpert, sich ein Mikrofon schnappt und hölzern die nächste Tanzcombo ankündigt. Meine Mutter kam herein und stellte einen Wäschekorb mit gebügelter, akkurat zusammengelegter olivgrüner Kleidung auf den Sessel neben der Tür.
„Musst du nicht bald los?“
„Ja, ja, bin gleich weg.“
Ich verstaute die Uniformgarnituren in einer alten Reisetasche, warf ein paar Bücher obendrauf und schaltete den Fernseher aus. Sah mich ein letztes Mal im Zimmer um, vergewisserte mich, nichts vergessen zu haben. Es war ein seltsamer Raum, voller Utensilien, die Geschichten von den Stadien eines Älterwerdens erzählten, Kindheit und Jugend nebeneinander, konkurrierend, nicht harmonisch. Noch Spielzeugautos im Regal, doch langsam dezimierte sich der Fuhrpark, musste immer mehr weichen für ein Sortiment von Longdrinkgläsern. Wo einst über dem Bett Bilder Disney’schen Ententreibens für süße Kinderträume sorgten, prangerte seit einiger Zeit ein überdimensionales Poster die ganze Ungerechtigkeit des juvenilen Universums an. „Pink Floyd – The Wall“, wütende Typographie auf weißer Mauer. Nahezu alles in meinem Leben zog sich in die Länge, auch die Trotzphasen.
Mit geschulterter Tasche verließ ich mein Zimmer, verabschiedete mich knapp von meiner Mutter und machte mich auf den Weg nach Rendsburg. Die sonntägliche Autobahn war um diese fortgeschrittene Uhrzeit wenig frequentiert. Die meisten Tagesausflügler saßen schon wieder auf der Couch, Lkw waren nur vereinzelt unterwegs. Hinter Hamburg bekam die Strecke etwas Geisterhaftes. Zwischen Elbtunnel und dem Kreuz Rendsburg war ich bis auf zwei oder drei schnell überholende Fahrzeuge für mich in der Dunkelheit. Im Radio lief das „Club-Wunschkonzert“, Kult- und Kuppelsendung auf NDR 2 zum Ausklang des Wochenendes. Einsames Herz im Norden sucht ebensolches. Dazwischen Kuschelrock. Scorpions, „Still loving you“ für schmachtende Hörer in eskalierender Einsamkeit. Ich fühlte mich ihnen allen verbunden, allein auf der Autobahn.
Der Parkplatz vor der Kompanie war verwaist, im Gebäude nur wenige beleuchtete Fenster. Ich begegnete niemandem, als ich durch das Treppenhaus und über den Flur zu meinem Zimmer ging. Irgendwo war leise ein Fernseher zu hören. So würde es bleiben, bis spät in der Nacht der letzte Zug aus Hamburg-Altona den Bahnhof Rendsburg erreichte und seine verschlafene Ladung auf den Bahnsteig rotzte. Ich packte meine Tasche aus, setzte mich an den kleinen Tisch in der Stube, drehte eine Zigarette und schrieb einen Brief an meine Großmutter.






1989/90 – Verhandlungssache

Zum Appell am Montagmorgen vor dem Kompaniegebäude hatten sich die Reihen merklich gelichtet. Die vertrauten Gesichter jener, mit denen zusammen ich 15 Monate zuvor den Wehrdienst begonnen hatte, fehlten, waren nicht länger verfügbar. Ich stellte mir vor, wie sie jetzt zu Hause aufwachten, im eigenen Bett, sich kurz vergewisserten, dass tatsächlich alles vorbei war, sich wohlig unter der eigenen Bettdecke umdrehten und weiterschliefen. Während ich über den Kasernenhof marschierte, würden sie in der eigenen Küche am eigenen Tisch frühstücken, vielleicht zusammen mit der Freundin. Wenn ich nach dem Mittagessen Tarnnetze reparierte und Erdnägel geradebog, würden sie durch ihre Heimatstadt bummeln, zu Verwandten fahren, Freunde besuchen. Bis in die Nacht hinein würden sie mit alten Weggefährten zusammensitzen, von den vergangenen 15 Monaten erzählen, darüber lachen. Irgendwann würden sie und ich in den Schlaf sinken, sie den Kopf voller Pläne, ich voller Leere.
Zur Mittagszeit bat ich um ein Gespräch beim Kompaniechef und bekam vom Soldaten der Schreibstube einen Termin um 16 Uhr zugeteilt. Mein Plan war, eine heimatnahe Versetzung zu beantragen. Dazu hatte ich mir eine haarsträubende Geschichte mit einer fiktiven, schwer depressiven Lebensgefährtin ausgedacht. Als Untermauerung und zum Beweis sollte ein Foto meiner Ex-Freundin Silke dienen. Seit Beginn des Wehrdienstes klebte es an der Innenseite der Spindtür; ich bildete mir ein, das Soldatenleben sei nicht ganz so einsam, wenn ich mir und den anderen eine glückliche Liebesbeziehung vorgaukelte. Auf dem Bild hockte Silke, mit schwarz-goldener Bluse festlich gekleidet, neben einem geschmückten Weihnachtsbaum, beide feierlich glitzernd, das Mädchen mit einem offenen, strahlenden Lachen, weltzugewandt und optimistisch. Das Bild hätte für die Titelseite eines Hochglanzblattes getaugt, als Beleg für ein Leben auf der Schattenseite war es denkbar ungeeignet.
Hauptmann Gerster saß hinter seinem Schreibtisch, gebeugt über eine Stapel Unterlagen. Er sah nicht auf, als ich das Büro betrat, militärisch grüßte und meinen Spruch aufsagte.
„Gefreiter Thomsen meldet sich wie befohlen.“
Der Kompaniechef bearbeitete weiter seine Papiere, ließ mich in der steifen soldatischen Grundstellung stehen, eine Minute, zwei, eine Demonstration von Überlegenheit.
„Rühren.“
Ich entspannte mich nur leicht, wusste nicht wohin mit meinen Händen, verschränkte sie hinter dem Rücken. Wiederum verging eine kleine Ewigkeit, bis Gerster mich endlich ansah und mit einem Nicken anwies, auf dem Stuhl vor seinem Tisch Platz zu nehmen.
„Was wollen Sie?“
Ich begann meine sorgfältig zurechtgelegte Geschichte zu erzählen, Trauerspiel über eine in der Heimat todunglücklich zurückgelassene Lebensgefährtin, deren suizidale Gedanken unterhalb der Woche bedenklich konkrete Züge annahmen. Ich berichtete von den wiederkehrenden Dramen sonntäglichen Abschieds, wenn Silke tränenüberströmt versuchte, mich festzuhalten, mich anflehte, sie nicht zu verlassen. Meine Erwähnung zweier Suizidversuche der geliebten Freundin während der Bundeswehrzeit sollte, ja musste den Hauptmann in die Enge treiben, ihm keine andere Wahl lassen, als mich nach Hause zu versetzen, Minden oder Bückeburg, Ortsnamen mit betörendem Klang.
Seit Kindheitstagen waren solch kühn konstruierte Lügengeschichten eine Spezialität meiner Phantasie. Ständig erfand ich diese Gebilde, um mich aus verhängnisvollen Situationen zu befreien, in die ich mich selber manövriert hatte. Unbewusst entwickelte ich eine gewisse Routine im Erfinden von Plots, die mich als Unschuldslamm in weißer Weste darstellten. Mein Kopf erschuf Bilder zu diesen Geschichten, drehte ganze Filme daraus, bis sie mir so real vorkamen, dass ich selbst daran glaubte. Diese überbordende Phantasie hätte die Überzeugungskraft meiner Lügen erheblich verstärken können, doch immer neigte sie auch zu unnötiger Komplexität und einem Quentchen Übertreibung, was mich stets in weitere Erklärungsnöte brachte und mich die Übersicht verlieren ließ. Ein erstes Verhör überstand ich noch häufig, ein zweites niemals.
Während ich weiter um meine Versetzung kämpfte, die Beweggründe in immer lebhafteren und drastischeren Bildern argumentierte und zementierte, holte ich das Foto aus der Tasche und schob es über den Schreibtisch dem Kompaniechef entgegen. Er musterte es kurz, ohne es aufzunehmen, dann sah er mich an, zum ersten Mal. In seinem Blick konnte ich nicht die geringste Emotion wahrnehmen. Kein Mitgefühl, kein Verständnis, keine Sympathie. Aber auch kein Misstrauen, keine Abneigung, keine Feindseligkeit. Es war, als säße mir gegenüber eine mit Knetmasse gefüllte Uniform, eine Puppe, in deren konturloses Gesicht jemand zwei Augen und einen waagerechten Strich als Mund geschnitzt hatte.
„Die Dame scheint mir wenig depressiv.“
„Das Foto ist schon älter. War vor der Bundeswehrzeit.“
„Macht mir insgesamt einen ziemlich selbständigen und selbstbewussten Eindruck.“
„Sie kann sich gut verstellen.“
Er schob das Bild in meine Richtung, wandte sich erneut seinen Unterlagen zu.
„Ich werde Ihrem Versetzungsgesuch nicht entsprechen.“
Er sprach es völlig ton- und emotionslos aus, ein in Worte gefasster Behördenbescheid. Widerspruch nicht zugelassen.
„Aber ich muss nach Hause! Ich halte es nicht mehr aus! Es ist Ihre Schuld, wenn …“
Er sah auf. Eine Wand aus Kälte raste mir entgegen.
„Wegtreten.“

Vor der Kaserne standen zwei Telefonzellen. Allabendlich bildete sich dort eine Schlange von Soldaten, die zum günstigeren Tarif ab 18 Uhr Ferngespräche in die Heimat führen wollten. „Mondscheintarif“ nannte die Deutsche Post diese immer noch horrende Nachtgebühr. Wer ein längeres Gespräch plante, ließ sich tagsüber in der Zahlstelle einen größeren Geldschein in Fünfmarkstücke wechseln. Das Geklimper in den Hosentaschen der Rekruten stand in direktem Verhältnis zum Ausmaß ihres Heimwehs. Gegen 19 Uhr, nach dem ersten Ansturm auf die beiden Fernsprecher, reihte ich mich in die Schlange ein, wartete, bis mir der heiß begehrte Platz in der engen Zelle zufiel. Nach meinem unerfreulichen Vorsprechen am Nachmittag hatte ich mir für einen Fünfzigmarkschein eine Handvoll Münzen geben lassen, von der ich hoffte, dass sie für das bevorstehende Gespräch ausreichte. Mit dem Druckereiprogramm in der Hand, auf dem die Oeynhausener Nummer stand, die ich anrufen wollte, schob ich mich Stück für Stück vor, bis ich direkt vor der Kabine stand. Das Gespräch des Anrufers vor mir schien eher informeller Natur zu sein. Er hielt sich kurz, sprach einige knappe Sätze, notierte sich etwas auf einem Zettel und hängte auf. Ich nahm die geöffnete Tür entgegen, betrat die Zelle, holte mein Kleingeld hervor und stapelte es über dem Einwurfschlitz auf dem Fernsprecher. Stellte mir vor, wie die hinter mir Wartenden bei dem Anblick die Augen verdrehten, vielleicht sogar ihr Vorhaben aufgaben und verärgert zur Kaserne zurückkehrten. Ich wählte die Bad Oeynhausener Ortsvorwahl und die im Druckereiheft angegebene Nummer. Freizeichen. Ein Knacken in der Leitung, dann meldete sich eine männliche Stimme, sprach einen Nachnamen, betonte die letzte Silbe wie zum Ende einer Frage. Ich überlegte kurz, aufzulegen, widerstand der Versuchung.
„Äh, ja, hallo, Paul Thomsen hier. Ich habe die Nummer aus dem Programmheft der Druckerei. Bist du Andreas vom Dfg-VK?“
„Ja, der bin ich. Wie kann ich dir helfen?“
Die Formulierung seiner Frage, der Klang des Wortes „helfen“, dieser Bände sprechende Kontrast zu Gersters eisigem „Was wollen Sie“ – hier offenbarten zwei Welten ihr inneres Wesen, zwei Paradigmen sozialen Handelns, Menschlichkeit und Unmenschlichkeit.
„Ich möchte den Kriegsdienst verweigern und würde mich gern dazu beraten lassen.“
„Sicher, gern. Wir treffen uns das nächste Mal Samstag in einer Woche wieder in der Druckerei. Wann wäre denn deine Einberufung? Hast du schon einen Musterungstermin?“
„Ich bin schon Soldat.“
„Okay, das macht es schwieriger. Ist aber nicht unmöglich. Wir hatten hier schon solche Fälle. Stell dich drauf ein, dass du noch eine Zeit Zivildienst machen musst, wenn die Verweigerung durchkommt. Wie lange ginge dein Wehrdienst denn noch?“
„Drei Jahre.“
„Nein, das kann nicht sein, da hast du mich wohl falsch verstanden“, leises Lachen auf der anderen Seite, „wie viele der 15 Monate hast du schon hinter dir?“
„Ich bin Zeitsoldat.“
Stille. Nur ein leises Rauschen im Hörer. Ich war mir sicher, dass das Gespräch unterbrochen war. Ich hatte vergessen, Geld nachzuwerfen, oder mein Gegenüber hatte aufgelegt. Dachte vielleicht, ich wolle ihn verarschen. Dachte vielleicht, ich sei einer dieser Hundertprozentigen, einer dieser blind um sich beißenden Patrioten, für die alle Verweigerer nur Drückeberger oder Schwule oder beides waren, auf jeden Fall verweichlichte Bettnässer. Jemand, der sich einen Spaß daraus macht, den Zersetzern von Vaterland und Wehrkraft ab und zu ihre Grenzen aufzuzeigen. Ich nahm ein Fünfmarkstück, steckte es in den Einwurf, hörte es im Apparat fallen. Hörte etwas über dem ätherischen Rauschen, das wie ein scharfes Durchatmen klang, fast schon ein Pfeifen.
„Andreas?“
„Ja, ich bin noch da.“ Kurze Pause. „Viel kann ich dir dazu noch nicht sagen, ich muss mich da erst schlau machen. Grundsätzlich geht das, jeder Soldat kann verweigern, aber als Zeitsoldat wird das verdammt schwer. Du brauchst eine hundertprozentig glaubwürdige Begründung, warum dir dein Gewissen auf einmal den Kriegsdienst verbietet. Die lehnen den Antrag ab, wenn sie auch nur den leisesten Zweifel haben. Und schriftlich reicht denen nicht. Es wird zu einer Anhörung kommen, wo sie dir jede Menge unbequemer Fragen stellen. Mach dir schon mal Gedanken über deine Begründung, schreib es auf und bring deine Unterlagen dann am übernächsten Samstag mit. Ich sage den anderen Bescheid, damit wir möglichst viele sind.“
„Das klingt beschissen. Habe ich da überhaupt eine Chance?“
„Kennst du Gert Bastian?“
„Den von den Grünen?“
„Ja, der Lebensgefährte von Petra Kelly. Saß für die Grünen im Bundestag. Hat als General der Bundeswehr den Kriegsdienst verweigert. Erfolgreich. Ist bisher der Einzige, den ich kenne. Aber immerhin: Es geht.“
„Na toll.“
„Kopf hoch! Wir unterstützen dich, wo wir nur können. Wir haben hier ein paar Leute mit jeder Menge Erfahrung, was die Begründung angeht. Die kennen sich auch mit den Fallstricken und Fangfragen aus. Zusammen bereiten wir dich schon vor.“
„Okay, und was mache ich bis dahin?“
„Noch gar nichts. Erzähl niemandem davon, lass dir nichts anmerken. Tu nichts, was gegen dich verwendet werden könnte. Ach ja, stell um Himmels Willen kein Versetzungsgesuch!“
Die Zelle um mich herum verlor ihre Konturen. Telefon, Wände, Boden, Decke, die Außenwelt, alles begann zu wabern. Ich schloss die Augen.
„Okay, danke. Dann bis Samstag“, hauchte ich und legte auf.

Die folgenden Tage waren eine ständige Berg- und Talfahrt der Gefühle. Zuversicht ging von einer Minute auf die andere über in eine tiefe Hoffnungslosigkeit, die wiederum durch kurze Augenblicke eines fast euphorischen Optimismus abgelöst wurde. Einzig Wut und Trotz bildeten Konstanten in der emotionalen Sinusgleichung, waren dauerhaft präsent. Ich verfluchte mich dafür, das Versetzungsgesuch gestellt zu haben, war mir sicher, der Gegenseite damit ein unwiderlegbares Argument in die Hände gespielt zu haben. Dann sagte ich mir wieder, dass die Bundeswehr kein Interesse daran haben könne, einen Verweigerer und Renegaten weiter in der Truppe zu beschäftigen. Auch könnte die aktuelle politische Entwicklung eine Rolle zu meinen Gunsten spielen: Der Kalte Krieg schien seinem Ende entgegen zu gehen, der Eiserne Vorhang war gerade gefallen, Feindbilder begannen sich aufzulösen. Vielleicht würde sich das Klima der Annäherung auf meine Richter auswirken, sie milde stimmen. Ich hatte die wildesten Geschichten über dieses Gremium gehört, das über mich entscheiden sollte. Geschichten von boshaften Fangfragen. Was tun Sie, wenn drei Männer in Ihr Haus eindringen und Ihre Freundin vergewaltigen wollen? Wie verhalten Sie sich, wenn russische Soldaten Ihre Mutter bedrohen?
Wie konnte man nur solch eine Inquisition überstehen?
In der Truppe sonderte ich mich weiter ab, wann immer es möglich war. Verbrachte Pausen und Mahlzeiten allein, war froh, nach Dienstschluss ein Zimmer für mich allein zu haben. Es schien nicht aufzufallen; die Soldaten eines Quartals blieben häufig unter sich, scherten sich wenig um die vor oder nach ihnen Gekommenen. Abends saß ich in meiner Stube, las oder sah fern, grübelte. Manchmal war auf dem Flur das Lachen und Reden von ein paar Soldaten zu hören, die sich auf den Weg in eine der Diskotheken der Stadt machten. Kehrten sie einige Stunden später zurück, wurde es kurz laut. Ab und zu klopfte ein betrunkener Witzbold an die Tür, brüllte: „Thomsen, aufstehen!“. Von draußen müdes, halbherzig gehässiges Gelächter, sich entfernende Randale, wieder Ruhe. Irgendwann fiel ich in einen meist unruhigen Schlaf.

Eine zunehmende innere Unruhe machte das tatenlose Abwarten unerträglich. Immer wieder spielten sich in meinem Kopf kurze Filmszenen ab, Szenen eines Lebens fern der Bundeswehr. Ich auf einer Bandprobe, ich beim Besuch der Großmutter, ich in der Druckerei, an einem ganz gewöhnlichen Abend unterhalb der Woche. Es waren bewegte Bilder einer freien, selbstbestimmten Existenz. Sie versprachen, drängten, wurden mit jeder Folge ausgefeilter und eindringlicher.
Ich ignorierte Andreas’ Mahnung und suchte den Militärseelsorger auf. Die lebensmüde Geliebte hatte sich als wenig hilfreich erwiesen; ich beließ sie im Reich der Phantasie und berichtete dem Geistlichen stattdessen wahrheitsgemäß von den Seelenqualen, welche der Dienst in der Armee mit sich brachte. Sein Blick glich in seiner Leblosigkeit der des Kompaniechefs, lediglich kastriert um dessen militärische Strenge. Ich fragte mich, was diesen Mann wohl bewogen haben mochte, seinen Beruf zu ergreifen.
„Könnten Sie Halt im Glauben finden?“
„Nein.“
„Dann kann ich Ihnen leider nicht weiterhelfen.“
Dienstleistung nur für Fromme. Amen.
Kurz dachte ich darüber nach, den Truppenarzt zu konsultieren. Doch mit welchem Beschwerdebild? Zwei taube große Zehen und chronische Rückenschmerzen waren Symptome, mit denen sich ein Großteil der Rekruten herumplagte. Würden die Auswirkungen unpassenden Schuhwerks, durchgelegener Matratzen oder ungewohnten Marschgepäcks zu einer Krankschreibung oder gar Ausmusterung führen, wären die Kasernen verwaist. Die Standardtherapie der Bundeswehr für Beschwerden dieser Art bestand in der Vergabe kapitaler Schmerzmittel und der Erlaubnis, für zwei Wochen in Turnschuhen herumzulaufen. Also stellte ich alle weiteren Versuche, mich eigenständig aus den Fängen der Armee zu befreien, bis auf Weiteres ein, brachte die Dienstwoche unauffällig und lustlos hinter mich, fuhr am Freitag nach Hause, betrank mich in der Druckerei, schlief bis weit in den Samstag hinein meinen Rausch aus. Irgendwann am Abend schaltete ich den Fernseher ein, zappte durch die Kabelprogramme, blieb gebannt, gefangen, bei den Bildern einer Militärparade hängen. In preußischem Exerzierschritt zogen grün, grau und blau uniformierte Gruppen eine Straße entlang, vorbei an einer Riege greiser Staatschefs, denen es erkennbar schwerfiel, ihre zitternden, altersschwachen Arme zum Gruß starr auf Kopfhöhe zu halten. Die einzige Ausnahme in dieser Farce bildete ein ostentativ reservierter Michail Gorbatschow, der seine Hand nur hin und wieder kurz an die Schläfe führte, vielleicht, um keinen Eklat zu provozieren. Es waren die Feierlichkeiten zum vierzigsten Jahrestag der DDR, und während die „Aktuelle Kamera“ des DDR-Fernsehens ihre komplette Sendezeit der Wehrhaftigkeit und den Segnungen des Sozialismus widmete, konnte man in der „tagesschau“ Bilder all jener bestaunen, die mit diesem System nicht mehr einverstanden waren und in Ost-Berlin ihren Gegenentwurf zu einer Militärparade abhielten. Es waren viele. Mir wurde übel, und ich fragte mich, ob es ein Aufbegehren meines Körpers gegen die vorabendliche, gewohnt übermäßige Dosis Alkohol war, oder ob der Anblick soldatischer Dumpfheit eine somatische Reaktion auslöste. Ein Buch kam mir in den Sinn: Zwei oder drei Jahre zuvor hatte ich Anthony Burgess’ „A Clockwerk Orange“ gelesen, wo der junge Protagonist Alex mittels obskurer Methoden von seiner Neigung zu exzessiven Gewaltorgien „geheilt“ werden sollte – zur Überprüfung des Therapiefortschritts ließ man ihn fortwährend filmische Szenen aggressiver Akte betrachten. Gegen Ende der Behandlung wand sich der an einen Stuhl fixierte Alex vor Schmerzen und Übelkeit, wenn seine Behandler ihm eine rasant geschnittene Collage menschlicher Brutalität zwischen Hitler-Reden, Vergewaltigungen, Bombenangriffen und Morden vorführten.
War ich nun Pazifist? Wollte ich mir das einreden, zur Vorbereitung auf die bevorstehende Verhandlung? Eine Art präventive Gehirnwäsche? Nein, die schlichte Wahrheit war, dass ich das soldatische Paradigma einfach zum Kotzen fand. Die stumpfe Glorifizierung von Gehorsam, Kameradschaft, Hierarchien, Gleichschaltung – all dem widersprach etwas in mir vehement. Dieses innere Wesen hatte jedoch wenig mit einem Pazifisten gemein. Es war wütend, verletzt, egoistisch und gewaltbereit. Es hätte seine Interessen auch mit Waffen verteidigt.

Der Dfg-VK tagte in einem Besprechungsraum der Druckerei. Als ich am Samstag kurz vor 15 Uhr auf den Parkplatz fuhr und Hans’ Nissan wahrnahm, überlegte ich kurz, an der Tür der noch geschlossenen Kneipe zu klopfen und mir zwei oder drei Flaschenbiere herausgeben zu lassen. Kommunikation, mit Fremden, über ein sensibles Thema – im nüchternen Zustand eigentlich undenkbar. Ich widerstand dem Verlangen, ging durch den Saal in den hinteren Bereich des Hauses und öffnete nach kurzem Klopfen die Tür mit der Aufschrift „Gruppenraum I“.

Drei Gesichter warfen mir freundliche, offene und ein wenig besorgte Blicke zu. Einen der Männer, die an einer Tischreihe hinter einem Wust von Unterlagen saßen, kannte ich flüchtig aus dem Umfeld der „Drucker“. Der mittlere der drei stand auf, kam auf mich zu und hielt mir die Hand entgegen.
„Andreas. Du bist Thomas?“
Zwei Stunden und diverse Rollenspiele später verließ ich den Raum, in den Händen lose handschriftliche Notizen, eine Liste mit Literaturempfehlungen und einen Stapel Flyer und Broschüren, den Kopf geflutet mit Myriaden existenziell wichtiger und völlig bedeutungsloser Informationen. Die Anzahl der Tische und Vorhänge im Raum, der wahrscheinliche Ablauf einer Verhandlung, Haarfarbe und -länge meiner Berater, Verhaltensregeln für noch nicht anerkannte Kriegsdienstverweigerer – mein Verstand ordnete allen frischen Informationen die gleiche Priorität zu, unterschied nicht zwischen wesentlich und vernachlässigbar, verrührte alle während der vergangenen zwei Stunden gewonnenen Auskünfte und Eindrücke zu einem gedanklichen Brei. Lerneffekt und Erkenntniswert: Null. Ich stand im Saal der Druckerei, warf einen Blick auf meine Notizen. Die nervöse Mischung aus kindlicher Krakelei und chaotischen Stenografieversuchen war nahezu unleserlich. Kryptische Halbsätze, unterstrichen, mit Ausrufezeichen und Sternchen versehen. Unbrauchbar.
Zurückgehen wollte ich nicht. Meine Berater hatten sich jede erdenkliche Mühe mit mir gegeben, mir geduldig, ausführlich und einfühlsam alles Notwendige erklärt. Drei Menschen hatten ihre Zeit für mich geopfert. An einem Samstagnachmittag, den sie weitaus angenehmer hätten verbringen können. Vermutlich tauschten sie sich in diesem Augenblick darüber aus, was sie mit dem freien Rest des Tages anstellen würden. Sie zu bitten, ihre Ausführungen und Ratschläge erneut vorzutragen, käme einem Affront gleich. Und ich, ich würde selbst nach einer Wiederholung nichts begriffen haben.
Ich brauchte ein Bier.
Die Kneipe war noch nicht geöffnet. Ich ging ums Haus, sah Hans durch ein Fenster in der Küche werken, klopfte an die Scheibe. Er blickte auf und machte sich auf den Weg zur hinteren Außentür, um mich einzulassen. Ich setzte mich an die Theke. Hans begann, die Kneipe für die abendliche Öffnung vorzubereiten, verteilte Aschenbecher auf den Tischen, füllte den Kühlschrank auf, schraubte die Zapfhähne an.
„Kaffee oder Pils?“
„Pils null vier. Zwei.“
Nach dem ersten Bier besah ich erneut meine Unterlagen. Langsam kehrten bruchstückhafte Erinnerungen an das Gespräch mit den Mitgliedern des Dfg-VK zurück. Es würde nicht einfach werden, hatten sie gesagt. Ich müsse glaubhaft schwere Gewissensnöte darlegen, die mir den Dienst an der Waffe untersagten. Ursache für diese Nöte könne entweder ein Schlüsselerlebnis oder ein intensiver, langer Prozess der Wandlung sein. Diese ausführliche Begründung sei zusammen mit einem formalen Antrag, einem polizeilichen Führungszeugnis, und einem Lebenslauf beim zuständigen Kreiswehrersatzamt in Detmold einzureichen. Zwei oder drei schriftliche „Zeugenaussagen“ von Vertrauenspersonen, die den Antrag unterstützten, könnten auch nicht schaden. Für die anschließende mündliche Verhandlung sei es hilfreich, mir als Begleitung einen Beistand zu suchen.
Mein Vorhaben war unmöglich. Wie sollte ich argumentieren? Es gab keinen Wandlungsprozess und schon gar kein „Schlüsselerlebnis“. Ich wollte einfach nur weg von der Bundeswehr, hielt es dort nicht mehr aus. Es war ein unbändiger innerer Drang, mich einer Umgebung zu entziehen, die mich unweigerlich zerstören würde. Einen Gewissenskonflikt fühlte ich nicht. Hier ging es nicht um die Unmöglichkeit, Menschen zu töten. Hier ging es um die Unmöglichkeit, unter ihnen zu leben.
Hans kam zu mir. „Probleme?“
Ich nickte.
„Du warst beim Dfg-VK“, stellte er mit Blick auf die vor mir ausgebreiteten Unterlagen fest. „Kommst du voran mit deiner Verweigerung?“
Ich berichtete von dem vergangenen Gespräch und den Hürden, die es nun zu bewältigen galt. Hans hörte aufmerksam zu. Als ich geendet hatte, füllte er zwei Schnapsgläser mit Tequila, stellte eine Untertasse mit Zitronenscheiben und einen Salzstreuer auf den Tresen. Wir folgten dem üblichen Zeremoniell bei diesem Getränk: Zitronensaft auf die Hand, Salz darauf, alles ablecken, Tequila herunterstürzen, in die Zitronenscheibe beißen. Noch zweimal wiederholten wir das Procedere, dann kehrte mit der sich in meinem Körper ausbreitenden Wärme ein kleines Stück Zuversicht zurück.
Hans dachte laut nach. „Eine dieser sogenannten Zeugenaussagen könntest du dir beim HPM holen. Was die zweite angeht: Kirche kommt immer gut.“
Was auch immer Hans dazu bewog, Klaus, den pädagogischen Mitarbeiter der Druckerei, stets etwas abfällig als „HPM“ zu titulieren – es war ein guter Vorschlag. Ich hatte einen guten Draht zu Klaus und war sicher, dass er ein wohlgesonnenes, intelligentes Schreiben aufsetzen würde. Auch mit der Kirche könnte ich Glück haben: Ich hatte einige Zeit dort in einem Helferkreis mitgearbeitet, der die sonntäglichen Kindergottesdienste begleitete. Der betreuende Pastor war ein gutherziger und, für einen Theologen, progressiver und offener Mensch.
„Und an deiner Stelle würde ich mit Roman sprechen. Der kann dir bestimmt mit deiner Begründung helfen und wäre auch ein guter Beistand bei der Anhörung.“
Roman war Mitarbeiter im Kneipenteam. Er war vielleicht zwei Jahre älter als ich und studierte in Bielefeld Soziologie. Neben Hans war er im Umfeld der Druckerei das zweite Vorbild, zu dem ich aufblickte und das ich unablässig zu kopieren suchte. Roman platzte fast vor Selbstbewusstsein, seine rhetorischen Fertigkeiten bildeten eine Bandbreite zwischen chirurgischem Feinwerkzeug und panzerbrechenden Waffen. Sein äußeres Erscheinungsbild war betont leger, aber nie nachlässig. Halboffenes kragenloses Hemd, die Ärmel hochgekrempelt, Designerjeans, Bootsschuhe, keine Socken. Längeres dunkles Haar, gepflegter Vollbart. Eine Art Messias der 80er Jahre. Begrenzt wurde dieses Ego nur durch seinen häufig anwesenden Vater, einer älteren, um 40 Jahre erfahreneren Ausgabe des Sohnes. Ich mochte Roman, schaute weit zu ihm auf, empfand ihn im Gegensatz zu Hans aber häufig als einschüchternd, wagte es nicht, in seiner Nähe eine eigene Meinung zu vertreten, war selbst unter Alkoholeinfluss blockiert, klein, stumm. Doch eins konnte ich nicht verleugnen: Als Unterstützer und Mentor bezüglich meiner Kriegsdienstverweigerung wäre er die perfekte Person.
Auf einmal war da Hoffnung. Ich musste nicht mehr allein in den bevorstehenden Kampf gegen den übermächtigen Gegner ziehen. Verbündete erschienen auf der Bildfläche. Verbündete, die nicht nur gut zureden, sondern handeln würden. Ich sah Hans an, der sich der spontanheilenden Wirkung seiner Vorschläge offenbar nicht ganz bewusst war.
„Danke, Mann! Danke! Lass mir mal noch eins ein.“ Ich schob ihm mein Glas rüber.
Ich betrank mich auch an diesem Abend wieder. Doch dieser Rausch war unvergiftet von Verzweiflung und Hilflosigkeit. Er war rein.
An diesem Abend hatte er die Leichtigkeit eines brasilianischen Karnevals.

In Rendsburg reichte ich am Montag für die darauffolgende Woche einen Urlaubsantrag ein, sicherheitshalber mit dem Hinweis versehen, ich hätte „dringende familiäre Angelegenheiten“ zu klären. Noch am Nachmittag bekam ich den Antrag unterschrieben und genehmigt zurück.
Zu Beginn der freien Woche suchte ich Klaus, den Pädagogen der Druckerei auf, schilderte ihm meine Lage, und bat ihn um Unterstützung. Er sicherte mir zu, noch am gleichen Tag ein Schreiben zu gestalten, das mich als zutiefst friedfertigen Menschen und überzeugten Pazifisten darstellte. Auch der Pastor, den ich tags darauf morgens telefonisch kontaktierte und nachmittags zuhause besuchte, versicherte mir seine Hilfe. Roman traf ich eines Abends in der Druckerei an. Er erklärte sich augenblicklich bereit, zusammen mit mir eine Begründung für die Verweigerung aufzusetzen. Auch seine Begleitung als Beistand zur Anhörung sagte er ohne Zögern zu. Mir schien es, als würde er sich primär zu seiner eigenen Erbauung darauf einlassen, vielleicht als kleines, willkommenes Abenteuer, vielleicht auch, um seinen herausragenden Status innerhalb der Druckereigemeinde weiter zu untermauern. Mir war es gleich. Ich nahm seine Mitwirkung dankbar an, und wir verabredeten uns für den Samstag zwei Wochen später.

Der Fernseher lief, als ich bei Roman eintraf. Verwundert darüber, was ihn bewogen haben mochte, sich der erbarmungswürdigen Mischung eines Nachmittagsprogramms aus Heimatfilmen, Kinderfernsehen und tristen Sportübertragungen auszusetzen, blickte ich auf den Bildschirm. Zu sehen war eine Mauer, auf der Menschen umherspazierten. Menschen mit einem Gesichtsausdruck zwischen Glück und Fassungslosigkeit, manche mit Tränen in den Augen. Es war die Mauer, die Günter Schabowski, Mitglied des Zentralkomitees der SED, zwei Tage zuvor versehentlich geöffnet hatte. Ich war fasziniert von diesen Bildern, die ausufernde Freude dieser Menschen übertrug infizierte und beflügelte mich. Wenn diese Menschen es geschafft hatten, einen autoritären Staat in die Knie zu zwingen, dann musste es mir doch gelingen, mein eigenes, kleines Stückchen Freiheit in dieser Welt zu erreichen.
Roman und ich machten uns an die Arbeit. Wir bauten eine Argumentation auf, die der Logik folgte, dass durch meine intensiven Kontakte mit dem linksalternativen und pazifistischen Milieu des Begegnungszentrums Druckerei ein grundlegender Sinneswandel erfolgt war, was meine Einstellungen zu Friedenspolitik und Dienst an der Waffe anging. Bildhaft schilderten wir einige fiktive und dennoch (unserer Meinung nach) sehr glaubwürdige Schlüsselerlebnisse innerhalb dieses Milieus, die nahezu zwangsläufig eine inneren Umkehr hin zu einem Paradigma völliger Gewaltlosigkeit zur Folge hatten. Roman redete und schrieb sich in Rage, der Protagonist war nicht länger ich, sondern er. In diesem Moment lebte er mein Leben, mit meinen Nöten, meinen Zielen. Seine Schilderungen und Argumente waren für mich so bestechend plausibel, dass ich nicht wagte, ihn in seinem Redeschwall zu unterbrechen. Gebannt verfolgte ich, wie sich eine Idee an die nächste reihte und sich scheinbar lose Gedanken zu einem Kausalstrang formierten, der am Ende nur eine Schlussfolgerung zuließ: Dieser Mann kann kein Soldat sein.
Später fuhren wir gemeinsam zur Druckerei. Während Roman die Kneipe für den Abend vorbereitete, setzte ich mich im Büro des Kulturzentrums an die elektrische Schreibmaschine und tippte mit zwei Fingern den Text ab, in dem es zwar um mich ging, der aber optisch und inhaltlich nur so wenig meiner Handschrift entsprach. Trotzdem war ich beseelt und voller Zuversicht, als ich zu fortgeschrittener Stunde meine kompletten Antragsunterlagen, inklusive der Stellungnahmen von Klaus und dem Pastor, in einem frankierten DIN A4 Umschlag, der als Empfänger die Adresse des Kreiswehrersatzamtes in Detmold trug, vor mir auf dem Schreibtisch liegen hatte. Einen feierlichen Moment blickte ich den Umschlag ehrfürchtig an, ließ mich noch kurz auf ein Bier in der Kneipe nieder, dankte Roman, und fuhr durch die Nacht nach Hause einem Sonntag entgegen, welcher einiges vom seinem gewohnten Schrecken verloren hatte.
Am nächsten Morgen wurde mir schlagartig bewusst, dass ich vergessen hatte, eine Kopie des Antrags anzufertigen. Auch war es wohl ratsam, ihn per Einschreiben anstatt mit der normalen Post zu verschicken. Bevor ich nach Rendsburg fuhr, warf ich den Umschlag, versehen mit einer Notiz an Klaus, in den Briefkasten der Druckerei. Vor der Autobahn machte ich an einer Telefonzelle halt, suchte die Privatnummer des Druckereipädagogen heraus, rief ihn an und bat ihn, die Unterlagen am nächsten Tag nach einer Vervielfältigung als Einschreiben auf die Reise zu schicken. Er versprach es, und beruhigt verließ ich die Stadt Richtung A2.

„Gefreiter Thomsen! Zum Kompaniechef! Jetzt sofort! Marsch Marsch!“
Etwas mehr als zwei Wochen waren vergangen, seit mein Antrag seinen Weg zum Empfänger eingeschlagen hatte. Jetzt stand der Unteroffizier Rogowski gewohnt breitbeinig vor mir, sein spitzbübisches, rotzlöffeliges Grinsen erinnerte mich an Martin Semmelrogge in „Das Boot“. Im Gegensatz zu den meisten anderen Zeit- und Berufssoldaten war er mir nicht gänzlich unsympathisch. Ich mochte ihn sogar ein bisschen, und mir schien, als beruhe das auf Gegenseitigkeit. Zwar genoss Rogowski seine Macht über andere offensichtlich, nahm seine Aufgabe bei der Bundeswehr allerdings nicht allzu ernst. So erging es mir nun mit dem Kommando „Marsch Marsch“. Ich machte mich eher gemächlich auf den Weg, gefolgt von einem dröhnenden „Ey, Tempo“, dessen Klang deutlich anzuhören war, dass bei Nichtbefolgung keine Repressionen drohten. Der Unteroffizier war heute gut gelaunt.
Auch der Kompaniechef schien einen guten Tag zu haben. Ein amüsiertes Grinsen umspielte seine Mundwinkel.
„So, Sie wollen also den Wehrdienst verweigern. Ihnen ist sicher bewusst, dass Sie mit dieser Farce keine Chance haben.“
Ich schwieg.
„Man wird Ihr bisheriges Verhalten zur Kenntnis nehmen, das spricht eindeutig gegen Sie“, fuhr er fort. „Auch meine Beurteilung wird eindeutig ausfallen. Gewöhnen Sie sich also an den Gedanken, ihre Zeit bei der Truppe vollumfänglich abzuleisten.“
Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück, sah mich unverwandt an, schien auf eine Reaktion meinerseits zu warten. Ich fühlte mich nicht imstande zu einer Replik; diese ruhige, sachliche und überaus selbstüberzeugte Intonation des Kompaniechefs stahl mir mit jedem ausgesprochenen Wort ein Stück der fragilen Zuversicht in mein Unterfangen. Hilflos stand ich vor ihm, mit dem einzigen Wunsch, dass dieser Moment so schnell wie möglich ein Ende finden möge.
Der Hauptmann betrachtete mich weiter, ich musste meinen Blick senken, hielt dieses ungleiche Duell nicht aus, unterwarf mich. Dies schien das Signal zu sein, auf das er gewartet hatte. Er löste seine Fixierung, stand auf, ging zum Fenster, sah hinaus.
„Bis zur Verhandlung sind Sie vom Dienst an der Waffe befreit. Sie werden nicht mit auf Übungen fahren, keinen Stahlhelm tragen, und auf den Rang eines Gefreiten zurückgestuft. Ich werde Sie im Lager als Materialwart einsetzen. Nach der Verhandlung sehen wir weiter. Wegtreten.“

Die Tage im Materiallager waren um ein Vielfaches angenehmer als der reguläre Dienst. Ich war die meiste Zeit für mich allein, hatte mit dem militärischen Alltag nicht mehr viel zu tun. Durch die willkommene Entfremdung kehrte ein wenig der verloren geglaubten Zuversicht zurück. Hin und wieder suchte mich der ein oder andere einfache Soldat an meinem neuen Arbeitsplatz auf, bat um eine Rolle Panzerband oder einen Satz Erdnägel. Den größten Teil der Zeit verbrachte ich allein, führte Inventuren durch, bestellte Material, las Romane, hing meinen Gedanken nach. Vorgesetzte ließen sich nicht blicken.

Anfang März wurde ich erneut zum Kompaniechef gerufen. Er empfing mich mit der gewohnt emotionslosen Attitüde.
„Ihr Verhandlungstermin ist auf Dienstag, den 20. März festgesetzt. Sie erscheinen um Zehn Null Null beim Kreiswehrersatzamt Detmold und melden sich dort wie befohlen. Sie erhalten für diesen Tag Sonderurlaub. Heimfahrt also am Montag davor. Am Mittwoch melden Sie sich um Acht Null Null beim Kompaniechef zurück zum Dienst. Wegtreten.“

Als ich am 20. März frühmorgens in Bad Oeynhausen das Haus verließ, fühlte ich mich nicht in der Lage, ein Kraftfahrzeug sicher durch den Straßenverkehr zu führen, schon gar nicht auf unbekannter Strecke. Den verdutzten Eltern hatte ich bei meiner Ankunft am Tag zuvor etwas von ein paar Tagen Sonderurlaub aufgrund einer vergangenen Übung vorgelogen. Der Versuchung am Vorabend, mich in einer Kneipe volllaufen zu lassen, hatte ich schweren Herzens widerstanden, wobei mir an diesem Dienstagmorgen ein kapitaler Kater lieber gewesen wäre als das Gefühl, freiwillig den Ort der eigenen Hinrichtung aufzusuchen.
Roman saß auf dem Beifahrersitz, ungewöhnlich still, die Straßenkarte auf dem Schoß. Die meiste Zeit blickte er aus dem Seitenfenster, ließ nur gelegentlich eine knappe, völlig überflüssige Bemerkung zur vorbeiziehenden Landschaft fallen.
„Windmühle.“
„Was?“
„Eine Windmühle. Da hinten war eine Windmühle.“
„Ach so. Schön.“
„Ja, schön.“
Das Kreiswehrersatzamt war ein typisch phantasie- und farbloser, abstoßender Behördenbau, außen wie innen. Was machte solch ein Klotz mit den Menschen, die sich jeden Tag von ihm schlucken ließen, um darin ihrer Arbeit nachzugehen? Führte ein längerer Aufenthalt in diesem Gebäude nicht zwangsläufig zu einer schleichenden Kontamination des Bewusstseins mit dessen Kälte und Tristesse? Gnade war hier nicht zu erwarten. Gnade erforderte Empathie, und Empathie konnte an diesem Ort keine Heimat finden.
Der auf der Vorladung angegebene Raum befand sich im zweiten Stock am Ende eines langen Flurs. An der Tür befand sich ein Schild mit der Aufschrift „Eintreten nur nach Aufforderung“. Wir nahmen auf zwei Stühlen gegenüber der Tür Platz und warteten. Es war Viertel vor zehn. Eine halbe Stunde öffnete sich die Tür. Eine etwas bieder wirkende männliche Gestalt im Rentenalter erschien und blickte auf einen Zettel in ihrer Hand.
„Herr Thomsen?“
Ich nickte.
„Kommen Sie.“
Der Raum, in den wir eintraten, war riesig. Der rückwärtige Bereich wurde durch eine große Bühne ausgefüllt. Die Szenerie erinnerte an eine Schulaula. Auf der Bühne standen aneinandergereiht mehrere Tische, hinter denen vier Männer saßen. Sie alle ähnelten in ihrer Erscheinung demjenigen, der uns eingelassen hatte: fortgeschrittenes Alter, konservatives Jacket oder Strickjacke mit Krawatte, harmlose Spießigkeit. Ich war erleichtert. Spürte, wie ein Teil meiner Nervosität von mir abfiel. Ausgemalt hatte ich mir im Vorfeld ein unerbittliches Tribunal, als Protagonist eine Reinkarnation Roland Freislers in einem unheilvoll schreiend roten Talar, flankiert von finster feindselig dreinblickenden Armeegenerälen, die Gesichtszüge zementiert durch Vorverurteilung. Was ich nun vor mir sah, wirkte eher wie die Jahreshauptversammlung eines Kaninchenzuchtvereins.
„Setzen Sie sich“. Der Einlassgeber wies auf einen vor der Bühne stehenden Tisch mit zwei Stühlen und begab sich anschließend zu seinen Kollegen in die erhöhte Position.
Der Mann in der Mitte ergriff das Wort. Geschäftsmäßig und routiniert ließ er sich von mir dir Korrektheit meiner Personalien bestätigen, erläuterte Zweck und Ablauf der Verhandlung, verlas den Sachverhalt. Zum Ende seiner Ausführungen nahm er Notizen in seinen Unterlagen vor. Eine Pause entstand. Ich wusste, dass es nun zur Befragung kommen würde, zum Verhör. Spürte, wie die Angst die Feuchtigkeit durch die Haut meiner Handflächen trieb. Ich blickte zu Roman, fand in seiner Ruhe einen Anker, einen sicheren Hafen für meine Konzentration. Es konnte beginnen.
Natürlich hatte ich mich auf alle Fragen vorbereitet, die man mir laut meiner Berater unweigerlich stellen würde. Die Fangfragen, welche in ihrer Hinterhältigkeit und eigenen Logik nur eine einzige valide Antwort zuließen. Ich wusste, was zu erwidern war, wenn Freisler sich erhob und seine Hasstiraden durch den Gerichtsaal dröhnte: „Sie! Sie sind doch Abschaum! Was tun Sie denn, wenn der Russe Ihre Tochter schändet“. Unzählige Male hatte ich das Szenario im Kopf durchgespielt.
Auf die Fragen, die tatsächlich folgten, war ich nicht vorbereitet.
„Auf welcher Schreibmaschine haben Sie Ihre Verweigerung geschrieben? War es eine elektrische? Wem gehörte sie?“
„Wie ist das ‚Begegnungszentrum Druckerei‘ organisiert? Gibt es einen Hauptverantwortlichen?“
„Was werden Sie tun, wenn wir Sie heute aus der Bundeswehr entlassen?“
„Sind Sie mit dem eigenen Fahrzeug zu dieser Verhandlung gekommen?“
Es wurden durchweg Fragen gestellt, die leicht zu beantworten waren. Fragen, die nicht im Entferntesten mit meinem Sinneswandel und meiner neuen Einstellung zum Soldatsein zu tun hatten. Fragen, deren Antwort nichts zu einer Entscheidungsfindung beitragen konnten. Es waren Fragen von Menschen, die ihr Urteil bereits gefällt hatten.
Ich war am Boden zerstört. Verschwommen nahm ich wahr, wie Roman angeboten wurde, ein Schlusswort zu halten. Er lehnte sich zurück, schloss in seiner unnachahmlich überheblichen Mimik kurz die Augen, wie um seine Geduld mit seinen minderbemittelten Zuhörern zu demonstrieren, und begann zu reden.
„Nun stellen Sie sich mal vor, Sie haben da einen Stuhl, den Sie blau gestrichen haben. Und nun wollen Sie den auf einmal rot streichen.“
Ich hörte nicht mehr, wie Roman sein Plädoyer fortführte. Kurz konnte ich noch die fünf Männer auf der Bühne betrachten, deren vormals emotionsloser und undeutbarer Gesichtsausdruck in offene Skepsis überging, Der Vorsitzende runzelte die Stirn, sein Nebenmann verschränkte die Arme vor der Brust. Mehr bekam ich nicht mit. Erst als mich jemand ansprach, fand ich zurück in die bittere Realität.
„Herr Thomsen, nehmen Sie noch einen Moment vor der Tür Platz. Wir beraten uns.“
Auf dem Flur blickte ich Roman erneut an. Er schien nicht weniger niedergeschlagen als ich. Ob seine Trauer egoistischer oder altruistischer Natur war, war mir egal. Halt und Hilfe waren hier nicht mehr zu finden, und nur das zählte.

Jemand kam den Gang entlang auf uns zu. Das Klacken hoher Absätze, eine weibliche Stimme. Ein Briefumschlag vor meinen Augen.
„Herr Thomsen? Bitte übergeben Sie dieses Schreiben Ihrem Kompaniechef.“
Ich betrachtete den Brief. Die Demütigung, diese Nachricht meinem Widersacher persönlich überbringen zu müssen, machte die Niederlage perfekt.
„Das ist an mich adressiert, nicht an den Hauptmann. Kann ich es öffnen?“
Die Botin wirkte unschlüssig, bejahte aber nach kurzem Zögern. Ich riss den Umschlag auf, überflog das Formular. Paul Thomsen … 3 FmBtl 610 … Laut Beschluss vom 20.03.1990 … Gemäß § … Anerkannt … Seine Dienstzeit endet gemäß § … Kriegsdienstverweigerungsgesetz … am 20.03.1990 … .
„Ab sofort? Wirklich ab sofort?“, fragte ich die Überbringerin.
„Soweit ich weiß, ja. Das gilt ab sofort.“
Schabowski, dachte ich und blickte Roman an. Er grinste.

1990 – Intermezzo

Zwei Tage nach der Verhandlung fuhr ich ein letztes Mal nach Rendsburg. A2, A7 – die Strecke hatte ihren Schrecken, ihre vormalige feindliche Gesinnung, komplett eingebüßt. Seit der Urteilsverkündung in Detmold lebte ich in einem euphorischen Ausnahmezustand. Der bislang fatalste Fehler meines Lebens war ausgebügelt, neue Türen standen offen, der dunkle Gang hinter mir begann zu verschwimmen. Im Kassettenrecorder lief BAP: „Fortsetzung folgt…“, „Rääts un links vum Bahndamm“. Lieder, die ich unzählige Male während unzähliger Fahrten zur Kaserne gehört hatte. Lieder, die fast zwei Jahre lang das Ende jedes Wochenendes und den Beginn einer neuen Dienstwoche markiert hatten. Eckpfeiler zweier parallel laufender Leben, wie sie unterschiedlicher kaum sein konnten. Ich sang sie laut mit, nun nicht mehr verzweifelt und wütend wie vormals, sondern überschwänglich und bierselig grölend wie einen Schlager. Erst als mir die Diskrepanz zwischen zwischen der Stimmung der Songs und meiner eigenen bewusst wurde und mich unangenehm berührte, ich mir wie ein Verräter an BAP’s politischem Duktus vorkam, wechselte ich die Musik.
Gegen Mittag erreichte ich die Kaserne. Das Büro des Kompaniechefs war verwaist, also begann ich damit, meine persönlichen Sachen ins Auto zu laden. Auf dem Flur begegnete ich einigen Soldaten meiner Einheit. Sie erkundigten sich nach der Verhandlung, beiläufig, als könne an deren Ausgang kein Zweifel bestehen. Ich erstattete bereitwillig Bericht, verschwieg alle Ängste, Zweifel, Unwägbarkeiten – meine Euphorie hatte die Erinnerung daran schlicht hinweggefegt. In den Gesichtern meiner Gesprächspartner ließ sich ein Staunen wahrnehmen, und so etwas wie Wohlwollen.
„Hätte niemals gedacht, dass das so einfach ist“, bemerkte ein Rekrut, dem noch eine längere Wehrdienstzeit bevorstand. Er überlegte kurz. „Das mache ich auch“.
In der Gruppe folgte ein angeregtes, gut gelauntes Schnattern über Sinn und Unsinn der Bundeswehr und wie ein jeder seine Lebenszeit erheblich angenehmer verbringen könnte. Ich machte weiter Werbung für den vorgezogenen Austritt aus der Armee, fühlte mich als Erlöser willkommen, als Ratgeber ernstgenommen. Bis das lockere Gespräch unvermittelt verstummte. Die Soldaten nahmen Haltung an. Ich wandte mich um. Hinter mir stand der Kompaniechef, eine unheilvolle Röte im Gesicht.
„Thomsen! Sie halten sich von den Rekruten fern und geben augenblicklich Ihr komplettes dienstliches Inventar ab. Truppenausweis zum Kompaniefeldwebel. Danach verlassen Sie unverzüglich das Kasernengelände“. Er blickte in die Runde. „Alle anderen melden sich in zehn Minuten in meinem Büro“.
Ich verabschiedete mich von den Wenigen, die etwas mehr als nur Kameraden gewesen waren. Danach führte ich den Befehl des Hauptmanns aus. Ich tat es gern, denn es war das letzte Kommando, das ich von einem Angehörigen der Bundeswehr in Empfang nahm.

A7, A2 – während des Nachhausewegs bekam die Wolke der Euphorie, die mich umhüllte, erste Löcher und gab einen Blick auf die Realität frei. Eine Realität, die sich von jener vor der Einberufung kaum unterschied. Ich war bald 23 Jahre alt, hatte keinen Schulabschluss, keinen Job, keine Perspektive. Wohnte bei meinen Eltern, denen ich nun nicht nur eine Erklärung, sondern darüber hinaus einen plausiblen Plan für die Zukunft schuldig war. Andernfalls würde der Status der Duldung im Elternhaus von einem Tag auf den anderen aufgehoben. Trübe Aussichten.

Zum Wochenende kehrte die verloren geglaubte Hochgefühl ein Stück weit zurück. Am Samstagabend in der Druckerei wurde mir schlagartig bewusst, dass mir der sonntägliche Abschied von der Heimat von nun an und für immer erspart bliebe. Ich war hier jetzt wieder mehr als nur ein Wochenendgast. Niemand würde sich an diesem Abend mit den Worten „Bis nächsten Freitag“ von mir verabschieden. Die plötzliche Erkenntnis tauchte die Kneipe in eine neue Stimmung. Sie bot nicht mehr die nur fragile Sicherheit eines zeitlich begrenzten Asyls. Alles in diesem Raum, die Menschen, das Interieur, das Licht, die Musik, alles umarmte mich und flüsterte mir warmherzig ins Ohr: „Willkommen zu Hause“.
Der Abend wurde zu einem Fest, einem Feuerwerk von Glücksgefühlen. Die Dramaturgie eines genialen Philanthropen. Hinter dem Tresen Hans und Karin, die immer wieder Zeit fanden, mich anzustrahlen. Um mich herum Stammgäste, Vereinsmitglieder, Angehörige des Kneipenteams mit Glückwünschen, Schulterklopfern, Worten voller Anerkennung. Mittendrin Roman, der die Szenen der Verhandlung als eine Art Heldenepos wiedergab, mit ihm als Held. Die Umstehenden hingen begierig an seinen Lippen – eine Neukomposition von da Vincis „Abendmahl“. Mehr und mehr Gäste fanden sich ein. Wieder Glückwünsche, freudige Umarmungen, und Roman deklamierte sein Epos für die Hinzugekommenen erneut, verpasste dem Werk in der jeweils aktuellen Version einen weiteren rhetorischen Feinschliff.
Irgendwann wechselten die Gesprächsthemen ins Alltägliche. Tagespolitik, persönliche Befindlichkeiten, Klatsch, Nonsens – Kneipenkommunikation. Ich rückte aus dem Mittelpunkt. Es war mir recht, die ungewohnte geballte Aufmerksamkeit war erhebend, aber auch anstrengend gewesen. Was blieb, war das freundlich anerkennende Lächeln des ein oder anderen Gastes, wenn sich unsere Blicke zufällig trafen. Ich entspannte mich, hörte Gesprächen zu, trank. Wurde langsam in einen Strom hineingesogen. In den leise pulsierenden Strom einer Freitagnacht, der für ein paar Stunden das Grau der Woche vergessen macht und die Menschen sorglos lachen lässt. Ich ließ mich treiben.
Meistens waren meine Eltern bereits zu Bett gegangen, wenn ich spät nach Hause kam. Es konnte höchstens vorkommen, dass mein Stiefvater sich noch im Wohnzimmer aufhielt, Musik über den Kopfhörer hörte oder vor dem Fernseher eingeschlafen war. Dann war es eine äußerst unangenehme Aktion, mich an ihm vorbei die offene Treppe zu meinem Zimmer herauf zu schleichen, zumal ich meist nicht nüchtern war und häufig die Balance auf den Stufen verlor. In dieser Nacht hielten sich beide noch im Wohnraum auf; das Licht im Zimmer war nicht wie üblich heruntergedimmt, der Fernseher lief nicht, meine Eltern saßen auf der Couch, hellwach. Ich sah auf die Uhr. Es war nach zwei, und das konnte nichts Gutes bedeuten.
„N’Abend“, bemerkte ich kleinlaut, und machte Anstalten, die Treppe hinaufzugehen.
„Kommst du mal? Wir müssen reden“. Der Tonfall meiner Mutter war eisig.
Ich betrat das Wohnzimmer, nahm auf einem freien Sessel Platz, wartete ab. Ich hatte mir eine stichhaltige Erklärung ausdenken wollen, warum meine Zeit bei der Bundeswehr ein solch abruptes Ende gefunden hatte. Dachte, dafür wäre noch Zeit bis zum Sonntag. Falsch gedacht. Ich saß in der Falle, und in diesem hell erleuchteten Verhörraum fiel mir auf die Schnelle nicht eine einzige Ausflucht ein, die mich hätte retten können. Mein Stiefvater saß auf der größeren Couch, blätterte in der Fernsehzeitung, würdigte mich keines Blickes. Als ginge ihn das alles nur am Rande an, als wäre er im bevorstehenden Prozess lediglich Zuschauer, wartender Zeuge oder Protokollant. Meine Mutter saß mir gegenüber.
„Was ist das mit der Bundeswehr? Warum bist du die ganze Woche hier und nicht in Rendsburg?“
„Habe ich doch gesagt! Ich habe Sonderurlaub!“
„Ich habe in der Kaserne angerufen. Du hast keinen Urlaub. Du hast den Wehrdienst verweigert und wurdest entlassen.“
Ich schwieg.
„Wieder etwas, was du angefangen und nicht durchgezogen hast. Was soll jetzt werden? Du hast nichts, Paul! Überhaupt nichts! Lügen, das ist alles, was du kannst! Und saufen und in den Tag hineinleben!“
Sie war außer sich, redete sich in eine verzweifelte Rage. Mit jedem ihrer Sätze wurde ich kleiner, jünger. Bis ich wieder das Kind war, das in der Schule nicht zurechtkam, sich beim Stehlen erwischen ließ, sich aus Träumen und Unwahrheiten eine eigene Welt erschuf, die immer wieder unterging.
Die Anklage wurde weiter vorgetragen. Gnadenlos, stichhaltig. „Der Job bei der Bundeswehr war sicher. Du hast gutes Geld verdient. Konntest froh sein, dass sie dich genommen haben. Jetzt hast du dir auch das verbaut! Du bist genau wie dein Vater! Der taugt auch zu nichts!“
„Ich habe es da nicht mehr ausgehalten“, war alles, was mir einfiel. „Es war schrecklich.“
Irgendetwas an meiner Aussage, vielleicht ihre Ehrlichkeit, vielleicht meine Defensive, schien meine Mutter zu berühren. Sie beruhigte sich etwas.
„Okay, und wie soll es jetzt weitergehen? Du kannst nicht den ganzen Tag zu Hause sitzen, nichts tun, und dich abends mit deinen Musikerfreunden volllaufen lassen. Sonst endest du irgendwo am Fließband als Hilfsarbeiter.“
„Ich sehe es ja ein. Ab Montag suche ich mir einen Job“. Nichts sah ich ein. Die Aussicht, morgens allein im Haus meine Ruhe zu haben, mich mittags aufzumachen und im Proberaum die ein oder andere Session zu spielen, abends in der Druckerei für ein paar Bier auszuhelfen – nichts war erstrebenswerter.
Meine Mutter nickte, schien sich fürs Erste mit dem Zugeständnis ihres Sohnes zufriedengeben zu wollen. Ich machte Anstalten aufzustehen.
„Bleib sitzen“. Er. Tonlos, bestimmt, befehlsgewohnt. Es war noch nicht vorbei.
„Dies ist mein Haus. Wenn du weiterhin in diesem Haus leben möchtest, wirst du dich ab jetzt an die Regeln halten. Ich werde nicht zulassen, dass du die Beziehung deiner Mutter und mir ruinierst. Ich gebe dir eine Woche Zeit, dir eine feste Arbeit zu suchen. Solltest du am Ende dieser Woche kein Ergebnis vorweisen können, wirst du deine Sachen packen und den Hausschlüssel abgeben. Außerdem wirst du ab sofort monatlich 200 Mark an Kostgeld unaufgefordert bei mir abgeben. Und du wirst dich an der Hausarbeit beteiligen.“
Während seines Vortrags hatte er nicht ein einziges Mal von seiner Zeitung aufgeblickt. Ich kannte diesen Duktus, diese herablassende, oberflächlich ruhige Art. Vier Tage war ich frei gewesen. Jetzt hatte ich wieder einen Kompaniechef.
„Jawohl“, brachte ich hervor und hätte beinahe versehentlich ein „Melde mich ab“ hinzugefügt. Gewohnheit.

Als ich am nächsten Morgen die Treppe herunterkam, war das Haus, wie am Samstagvormittag üblich, verwaist. Auf dem Esstisch lag aufgeschlagen die Tageszeitung, eine fett mit neongelbem Textmarker umkreiste Anzeige stach mir ins Auge. Ein Stellenangebot. Der „Metro Großhandelsmarkt“ suchte Hilfskräfte für verschiedene Abteilungen. Interessenten sollten sich am Montagmorgen um 10 Uhr bei der Personalabteilung melden. Ich fühlte mich unter Druck gesetzt, fremdbestimmt, schnitt jedoch als Zeichen meines guten Willens die Anzeige aus und steckte sie ins Portemonnaie. Mir würde nichts übrig bleiben, als diese Offerte wahrzunehmen, trotz allen Unbehagens angesichts des Arbeitsortes und der Tätigkeit. Vielleicht hatte ich Glück und würde aufgrund fehlender Eignung abgelehnt werden. Eventuell könnte ich meinen Eltern so den Eindruck ernsthafter Bemühungen vermitteln und dadurch einen Aufschub gewinnen.
Meine Hoffnung erwies sich als unbegründet. Was am Montagmorgen zusammen mit mir im Personalbüro saß und auf ein Gespräch wartete, war ein Kuriositätenkabinett aus gescheiterten Existenzen und gänzlich unmotivierten Gestalten, die allesamt wie ich nicht sonderlich glücklich über die Chance einer Festanstellung in diesem Etablissement schienen. Knapp zehn Personen, alle zwischen zwanzig und dreißig, starrten desillusioniert auf den Boden vor sich oder sahen trüb aus dem Fenster, vielleicht träumend von einem besseren Leben. Der Mann rechts von mir stellte sich mir als „Harry“ vor, reichte mir die Hand. Sein ganzer Körper dünstete Alkohol aus. Als er mich ansprach, verdichtete sich sein Aroma zu einem gerichteten Strahl von Schnaps und Moder. Mir wurde übel, ich wandte mich nach links, wo ein etwas dümmlich grinsender Koloss saß und unverwandt seine Finger betrachtete, vielleicht durchzählte.
Ein Mann im blauen Kittel mit Namensschild betrat das Büro, stellte sich als Betriebsleiter vor. Wenig interessiert überflog er eilig die Runde der Bewerber; der Anblick trauriger Gestalten schien im vertraut.
„Bitte kommen Sie der Reihe einzeln in mein Büro. Sie zuerst, bitte“. Er wies auf Harry, der aufstand und ihm leicht schwankend in einen angrenzenden Raum folgte. Wenige Minuten später öffnete sich die Tür wieder, Harry erschien, reckte den Daumen nach oben, mit einer Grimasse irgendwo zwischen grinsend und schmerzverzerrt. Er nickte mir zu, ich war an der Reihe.
Harry hatte eindeutige olfaktorische Spuren im Büro des Betriebsleiters hinterlassen. Es roch wie die Druckerei nach einer durchfeierten Nacht. Auf Aufforderung reichte ich dem Chef meine Unterlagen über den Schreibtisch. Er blätterte die Mappe durch, blieb kurz beim Lebenslauf hängen, murmelte „Bundeswehr“, nickte, hielt mir seine Hand entgegen.
„Herzlich willkommen bei der Metro. Sie können am kommenden Montag beginnen. Bitte melden Sie sich um 9 Uhr in der Spirituosenabteilung beim Abteilungsleiter Herrn Nolting. Sie werden dort mit Ihrem anderen neuen Kollegen eingearbeitet. Den haben Sie ja schon kennengelernt, er war vor Ihnen in meinem Büro.“
Ich überlegte, was den Betriebsleiter bewogen haben mochte, ausgerechnet Harry ins Reich des Fusels zu entsenden. Der Bock als Gärtner. Vielleicht war es ein besonderer Sinn für Humor, oder er versprach sich durch seine Wahl eine erhöhte Expertise in der Abteilung. Egal.
Alle, die sich an diesem Morgen beworben hatten, bekamen einen Arbeitsvertrag. Es stellte sich heraus, dass es sich ausnahmslos um Bürger der frisch untergegangenen Deutschen Demokratischen Republik handelte, die es nach Bad Oeynhausen verschlagen hatte, wo sie nun, eingepfercht in einem notdürftig renovierten maroden Schwesternwohnheim, auf bessere Zeiten hofften. Das örtliche Arbeitsamt hatte die ehemaligen Volksgenossen aus der Planwirtschaft angewiesen, sich die harte Westwährung in diesem Paradebeispiel des freien Marktes zu verdienen. Vielleicht der gleiche Sinn für Humor, den der Betriebsleiter an den Tag gelegt hatte.

Der Job erwies sich als eine Fortführung der Bundeswehrzeit, nur der Umgangston war etwas angenehmer. Statt der Uniform holte ich am folgenden Montag den himmelblauen Kittel aus einem Spind mit meinem Namen und warf ihn über. Im oberen Fach lagen einige Essensmarken für die Kantine und eine Lochkarte. Ich steckte beides ein, folgte den neuen Kollegen zur Stechuhr, ließ mir durch das Hämmern der Stanze den Dienstbeginn quittieren, und suchte meinen Arbeitsplatz auf.
Der Abteilungsleiter Nolting, ein freundlicher, älterer, motorisch bereits etwas unsicherer Mann, begrüßte mich. Ich schätze ihn auf kurz vor dem Rentenalter. Er führte mich durch sein Reich und erklärte mir meine Aufgaben. Die Spirituosenabteilung bestand aus drei langen Gängen mit Hochregalen zu beiden Seiten, prall gefüllt mit Flaschen, Kisten, Europaletten voller Kartons. Im ersten Gang nicht alkoholische Getränke, im zweiten Wein und Sekt, im letzten Gang alles, was hochprozentig war. Ich wollte Geistesgegenwart und Interesse bekunden, fragte meinen neuen Chef, warum es denn „Spirituosenabteilung“ und nicht „Getränkeabteilung“ hieß, schließlich gehörten doch auch Wasser und Säfte in das Ressort. Seine Miene verdunkelte sich leicht, glitt eine Nuance ins Abschätzige.
„Ganz ein Schlauer, was? Wegen Ihnen werden wir die Abteilung bestimmt nicht umbenennen.“
Ich beschloss, ab jetzt den Mund zu halten und nur noch eifrig zu nicken.
Meine Aufgaben bestanden darin, stets für gut gefüllte Regale zu sorgen. Fehlten irgendwo einzelne Flaschen, musste ich einen Karton öffnen und Einzelware nachlegen. War kein Karton mehr verfügbar, musste ich den stellvertretenden Abteilungsleiter bitten, mit dem Gabelstapler eine Palette aus der oberen Etage des Regals herunterzuholen. War einmal nichts zu tun, sollte ich mir einen Staubwedel nehmen und die Ware abstauben. Bei Kundenfragen, die ich nicht selbst beantworten konnte, war grundsätzlich der stellvertretende Abteilungsleiter zu holen. War dieser nicht verfügbar, galt der Abteilungsleiter als Ansprechpartner. War dieser ebenfalls nicht verfügbar, war der Kunde freundlich auf einen späteren Zeitpunkt zu vertrösten. War einmal nichts zu tun und alle Flaschen abgestaubt, galt es, den Eindruck von Untätigkeit unter allen Umständen zu vermeiden. Notfalls waren die Flaschen erneut abzustauben.

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