Zum Appell am Montagmorgen vor dem Kompaniegebäude hatten sich die Reihen merklich gelichtet. Die vertrauten Gesichter jener, mit denen zusammen ich 15 Monate zuvor den Wehrdienst begonnen hatte, fehlten, waren nicht länger verfügbar. Ich stellte mir vor, wie sie jetzt zu Hause aufwachten, im eigenen Bett, sich kurz vergewisserten, dass tatsächlich alles vorbei war, sich wohlig unter der eigenen Bettdecke umdrehten und weiterschliefen. Während ich über den Kasernenhof marschierte, würden sie in der eigenen Küche am eigenen Tisch frühstücken, vielleicht zusammen mit der Freundin. Wenn ich nach dem Mittagessen Tarnnetze reparierte und Erdnägel geradebog, würden sie durch ihre Heimatstadt bummeln, zu Verwandten fahren, Freunde besuchen. Bis in die Nacht hinein würden sie mit alten Weggefährten zusammensitzen, von den vergangenen 15 Monaten erzählen, darüber lachen. Irgendwann würden sie und ich in den Schlaf sinken, sie den Kopf voller Pläne, ich voller Leere.
Zur Mittagszeit bat ich um ein Gespräch beim Kompaniechef und bekam vom Soldaten der Schreibstube einen Termin um 16 Uhr zugeteilt. Mein Plan war, eine heimatnahe Versetzung zu beantragen. Dazu hatte ich mir eine haarsträubende Geschichte mit einer fiktiven, schwer depressiven Lebensgefährtin ausgedacht. Als Untermauerung und zum Beweis sollte ein Foto meiner Ex-Freundin Silke dienen. Seit Beginn des Wehrdienstes klebte es an der Innenseite der Spindtür; ich bildete mir ein, das Soldatenleben sei nicht ganz so einsam, wenn ich mir und den anderen eine glückliche Liebesbeziehung vorgaukelte. Auf dem Bild hockte Silke, mit schwarz-goldener Bluse festlich gekleidet, neben einem geschmückten Weihnachtsbaum, beide feierlich glitzernd, das Mädchen mit einem offenen, strahlenden Lachen, weltzugewandt und optimistisch. Das Bild hätte für die Titelseite eines Hochglanzblattes getaugt, als Beleg für ein Leben auf der Schattenseite war es denkbar ungeeignet.
Hauptmann Gerster saß hinter seinem Schreibtisch, gebeugt über eine Stapel Unterlagen. Er sah nicht auf, als ich das Büro betrat, militärisch grüßte und meinen Spruch aufsagte.
„Gefreiter Thomsen meldet sich wie befohlen.“
Der Kompaniechef bearbeitete weiter seine Papiere, ließ mich in der steifen soldatischen Grundstellung stehen, eine Minute, zwei, eine Demonstration von Überlegenheit.
„Rühren.“
Ich entspannte mich nur leicht, wusste nicht wohin mit meinen Händen, verschränkte sie hinter dem Rücken. Wiederum verging eine kleine Ewigkeit, bis Gerster mich endlich ansah und mit einem Nicken anwies, auf dem Stuhl vor seinem Tisch Platz zu nehmen.
„Was wollen Sie?“
Ich begann meine sorgfältig zurechtgelegte Geschichte zu erzählen, Trauerspiel über eine in der Heimat todunglücklich zurückgelassene Lebensgefährtin, deren suizidale Gedanken unterhalb der Woche bedenklich konkrete Züge annahmen. Ich berichtete von den wiederkehrenden Dramen sonntäglichen Abschieds, wenn Silke tränenüberströmt versuchte, mich festzuhalten, mich anflehte, sie nicht zu verlassen. Meine Erwähnung zweier Suizidversuche der geliebten Freundin während der Bundeswehrzeit sollte, ja musste den Hauptmann in die Enge treiben, ihm keine andere Wahl lassen, als mich nach Hause zu versetzen, Minden oder Bückeburg, Ortsnamen mit betörendem Klang.
Seit Kindheitstagen waren solch kühn konstruierte Lügengeschichten eine Spezialität meiner Phantasie. Ständig erfand ich diese Gebilde, um mich aus verhängnisvollen Situationen zu befreien, in die ich mich selber manövriert hatte. Unbewusst entwickelte ich eine gewisse Routine im Erfinden von Plots, die mich als Unschuldslamm in weißer Weste darstellten. Mein Kopf erschuf Bilder zu diesen Geschichten, drehte ganze Filme daraus, bis sie mir so real vorkamen, dass ich selbst daran glaubte. Diese überbordende Phantasie hätte die Überzeugungskraft meiner Lügen erheblich verstärken können, doch immer neigte sie auch zu unnötiger Komplexität und einem Quentchen Übertreibung, was mich stets in weitere Erklärungsnöte brachte und mich die Übersicht verlieren ließ. Ein erstes Verhör überstand ich noch häufig, ein zweites niemals.
Während ich weiter um meine Versetzung kämpfte, die Beweggründe in immer lebhafteren und drastischeren Bildern argumentierte und zementierte, holte ich das Foto aus der Tasche und schob es über den Schreibtisch dem Kompaniechef entgegen. Er musterte es kurz, ohne es aufzunehmen, dann sah er mich an, zum ersten Mal. In seinem Blick konnte ich nicht die geringste Emotion wahrnehmen. Kein Mitgefühl, kein Verständnis, keine Sympathie. Aber auch kein Misstrauen, keine Abneigung, keine Feindseligkeit. Es war, als säße mir gegenüber eine mit Knetmasse gefüllte Uniform, eine Puppe, in deren konturloses Gesicht jemand zwei Augen und einen waagerechten Strich als Mund geschnitzt hatte.
„Die Dame scheint mir wenig depressiv.“
„Das Foto ist schon älter. War vor der Bundeswehrzeit.“
„Macht mir insgesamt einen ziemlich selbständigen und selbstbewussten Eindruck.“
„Sie kann sich gut verstellen.“
Er schob das Bild in meine Richtung, wandte sich erneut seinen Unterlagen zu.
„Ich werde Ihrem Versetzungsgesuch nicht entsprechen.“
Er sprach es völlig ton- und emotionslos aus, ein in Worte gefasster Behördenbescheid. Widerspruch nicht zugelassen.
„Aber ich muss nach Hause! Ich halte es nicht mehr aus! Es ist Ihre Schuld, wenn …“
Er sah auf. Eine Wand aus Kälte raste mir entgegen.
„Wegtreten.“
Vor der Kaserne standen zwei Telefonzellen. Allabendlich bildete sich dort eine Schlange von Soldaten, die zum günstigeren Tarif ab 18 Uhr Ferngespräche in die Heimat führen wollten. „Mondscheintarif“ nannte die Deutsche Post diese immer noch horrende Nachtgebühr. Wer ein längeres Gespräch plante, ließ sich tagsüber in der Zahlstelle einen größeren Geldschein in Fünfmarkstücke wechseln. Das Geklimper in den Hosentaschen der Rekruten stand in direktem Verhältnis zum Ausmaß ihres Heimwehs. Gegen 19 Uhr, nach dem ersten Ansturm auf die beiden Fernsprecher, reihte ich mich in die Schlange ein, wartete, bis mir der heiß begehrte Platz in der engen Zelle zufiel. Nach meinem unerfreulichen Vorsprechen am Nachmittag hatte ich mir für einen Fünfzigmarkschein eine Handvoll Münzen geben lassen, von der ich hoffte, dass sie für das bevorstehende Gespräch ausreichte. Mit dem Druckereiprogramm in der Hand, auf dem die Oeynhausener Nummer stand, die ich anrufen wollte, schob ich mich Stück für Stück vor, bis ich direkt vor der Kabine stand. Das Gespräch des Anrufers vor mir schien eher informeller Natur zu sein. Er hielt sich kurz, sprach einige knappe Sätze, notierte sich etwas auf einem Zettel und hängte auf. Ich nahm die geöffnete Tür entgegen, betrat die Zelle, holte mein Kleingeld hervor und stapelte es über dem Einwurfschlitz auf dem Fernsprecher. Stellte mir vor, wie die hinter mir Wartenden bei dem Anblick die Augen verdrehten, vielleicht sogar ihr Vorhaben aufgaben und verärgert zur Kaserne zurückkehrten. Ich wählte die Bad Oeynhausener Ortsvorwahl und die im Druckereiheft angegebene Nummer. Freizeichen. Ein Knacken in der Leitung, dann meldete sich eine männliche Stimme, sprach einen Nachnamen, betonte die letzte Silbe wie zum Ende einer Frage. Ich überlegte kurz, aufzulegen, widerstand der Versuchung.
„Äh, ja, hallo, Paul Thomsen hier. Ich habe die Nummer aus dem Programmheft der Druckerei. Bist du Andreas vom Dfg-VK?“
„Ja, der bin ich. Wie kann ich dir helfen?“
Die Formulierung seiner Frage, der Klang des Wortes „helfen“, dieser Bände sprechende Kontrast zu Gersters eisigem „Was wollen Sie“ – hier offenbarten zwei Welten ihr inneres Wesen, zwei Paradigmen sozialen Handelns, Menschlichkeit und Unmenschlichkeit.
„Ich möchte den Kriegsdienst verweigern und würde mich gern dazu beraten lassen.“
„Sicher, gern. Wir treffen uns das nächste Mal Samstag in einer Woche wieder in der Druckerei. Wann wäre denn deine Einberufung? Hast du schon einen Musterungstermin?“
„Ich bin schon Soldat.“
„Okay, das macht es schwieriger. Ist aber nicht unmöglich. Wir hatten hier schon solche Fälle. Stell dich drauf ein, dass du noch eine Zeit Zivildienst machen musst, wenn die Verweigerung durchkommt. Wie lange ginge dein Wehrdienst denn noch?“
„Drei Jahre.“
„Nein, das kann nicht sein, da hast du mich wohl falsch verstanden“, leises Lachen auf der anderen Seite, „wie viele der 15 Monate hast du schon hinter dir?“
„Ich bin Zeitsoldat.“
Stille. Nur ein leises Rauschen im Hörer. Ich war mir sicher, dass das Gespräch unterbrochen war. Ich hatte vergessen, Geld nachzuwerfen, oder mein Gegenüber hatte aufgelegt. Dachte vielleicht, ich wolle ihn verarschen. Dachte vielleicht, ich sei einer dieser Hundertprozentigen, einer dieser blind um sich beißenden Patrioten, für die alle Verweigerer nur Drückeberger oder Schwule oder beides waren, auf jeden Fall verweichlichte Bettnässer. Jemand, der sich einen Spaß daraus macht, den Zersetzern von Vaterland und Wehrkraft ab und zu ihre Grenzen aufzuzeigen. Ich nahm ein Fünfmarkstück, steckte es in den Einwurf, hörte es im Apparat fallen. Hörte etwas über dem ätherischen Rauschen, das wie ein scharfes Durchatmen klang, fast schon ein Pfeifen.
„Andreas?“
„Ja, ich bin noch da.“ Kurze Pause. „Viel kann ich dir dazu noch nicht sagen, ich muss mich da erst schlau machen. Grundsätzlich geht das, jeder Soldat kann verweigern, aber als Zeitsoldat wird das verdammt schwer. Du brauchst eine hundertprozentig glaubwürdige Begründung, warum dir dein Gewissen auf einmal den Kriegsdienst verbietet. Die lehnen den Antrag ab, wenn sie auch nur den leisesten Zweifel haben. Und schriftlich reicht denen nicht. Es wird zu einer Anhörung kommen, wo sie dir jede Menge unbequemer Fragen stellen. Mach dir schon mal Gedanken über deine Begründung, schreib es auf und bring deine Unterlagen dann am übernächsten Samstag mit. Ich sage den anderen Bescheid, damit wir möglichst viele sind.“
„Das klingt beschissen. Habe ich da überhaupt eine Chance?“
„Kennst du Gert Bastian?“
„Den von den Grünen?“
„Ja, der Lebensgefährte von Petra Kelly. Saß für die Grünen im Bundestag. Hat als General der Bundeswehr den Kriegsdienst verweigert. Erfolgreich. Ist bisher der Einzige, den ich kenne. Aber immerhin: Es geht.“
„Na toll.“
„Kopf hoch! Wir unterstützen dich, wo wir nur können. Wir haben hier ein paar Leute mit jeder Menge Erfahrung, was die Begründung angeht. Die kennen sich auch mit den Fallstricken und Fangfragen aus. Zusammen bereiten wir dich schon vor.“
„Okay, und was mache ich bis dahin?“
„Noch gar nichts. Erzähl niemandem davon, lass dir nichts anmerken. Tu nichts, was gegen dich verwendet werden könnte. Ach ja, stell um Himmels Willen kein Versetzungsgesuch!“
Die Zelle um mich herum verlor ihre Konturen. Telefon, Wände, Boden, Decke, die Außenwelt, alles begann zu wabern. Ich schloss die Augen.
„Okay, danke. Dann bis Samstag“, hauchte ich und legte auf.
Die folgenden Tage waren eine ständige Berg- und Talfahrt der Gefühle. Zuversicht ging von einer Minute auf die andere über in eine tiefe Hoffnungslosigkeit, die wiederum durch kurze Augenblicke eines fast euphorischen Optimismus abgelöst wurde. Einzig Wut und Trotz bildeten Konstanten in der emotionalen Sinusgleichung, waren dauerhaft präsent. Ich verfluchte mich dafür, das Versetzungsgesuch gestellt zu haben, war mir sicher, der Gegenseite damit ein unwiderlegbares Argument in die Hände gespielt zu haben. Dann sagte ich mir wieder, dass die Bundeswehr kein Interesse daran haben könne, einen Verweigerer und Renegaten weiter in der Truppe zu beschäftigen. Auch könnte die aktuelle politische Entwicklung eine Rolle zu meinen Gunsten spielen: Der Kalte Krieg schien seinem Ende entgegen zu gehen, der Eiserne Vorhang war gerade gefallen, Feindbilder begannen sich aufzulösen. Vielleicht würde sich das Klima der Annäherung auf meine Richter auswirken, sie milde stimmen. Ich hatte die wildesten Geschichten über dieses Gremium gehört, das über mich entscheiden sollte. Geschichten von boshaften Fangfragen. Was tun Sie, wenn drei Männer in Ihr Haus eindringen und Ihre Freundin vergewaltigen wollen? Wie verhalten Sie sich, wenn russische Soldaten Ihre Mutter bedrohen?
Wie konnte man nur solch eine Inquisition überstehen?
In der Truppe sonderte ich mich weiter ab, wann immer es möglich war. Verbrachte Pausen und Mahlzeiten allein, war froh, nach Dienstschluss ein Zimmer für mich allein zu haben. Es schien nicht aufzufallen; die Soldaten eines Quartals blieben häufig unter sich, scherten sich wenig um die vor oder nach ihnen Gekommenen. Abends saß ich in meiner Stube, las oder sah fern, grübelte. Manchmal war auf dem Flur das Lachen und Reden von ein paar Soldaten zu hören, die sich auf den Weg in eine der Diskotheken der Stadt machten. Kehrten sie einige Stunden später zurück, wurde es kurz laut. Ab und zu klopfte ein betrunkener Witzbold an die Tür, brüllte: „Thomsen, aufstehen!“. Von draußen müdes, halbherzig gehässiges Gelächter, sich entfernende Randale, wieder Ruhe. Irgendwann fiel ich in einen meist unruhigen Schlaf.
Eine zunehmende innere Unruhe machte das tatenlose Abwarten unerträglich. Immer wieder spielten sich in meinem Kopf kurze Filmszenen ab, Szenen eines Lebens fern der Bundeswehr. Ich auf einer Bandprobe, ich beim Besuch der Großmutter, ich in der Druckerei, an einem ganz gewöhnlichen Abend unterhalb der Woche. Es waren bewegte Bilder einer freien, selbstbestimmten Existenz. Sie versprachen, drängten, wurden mit jeder Folge ausgefeilter und eindringlicher.
Ich ignorierte Andreas’ Mahnung und suchte den Militärseelsorger auf. Die lebensmüde Geliebte hatte sich als wenig hilfreich erwiesen; ich beließ sie im Reich der Phantasie und berichtete dem Geistlichen stattdessen wahrheitsgemäß von den Seelenqualen, welche der Dienst in der Armee mit sich brachte. Sein Blick glich in seiner Leblosigkeit der des Kompaniechefs, lediglich kastriert um dessen militärische Strenge. Ich fragte mich, was diesen Mann wohl bewogen haben mochte, seinen Beruf zu ergreifen.
„Könnten Sie Halt im Glauben finden?“
„Nein.“
„Dann kann ich Ihnen leider nicht weiterhelfen.“
Dienstleistung nur für Fromme. Amen.
Kurz dachte ich darüber nach, den Truppenarzt zu konsultieren. Doch mit welchem Beschwerdebild? Zwei taube große Zehen und chronische Rückenschmerzen waren Symptome, mit denen sich ein Großteil der Rekruten herumplagte. Würden die Auswirkungen unpassenden Schuhwerks, durchgelegener Matratzen oder ungewohnten Marschgepäcks zu einer Krankschreibung oder gar Ausmusterung führen, wären die Kasernen verwaist. Die Standardtherapie der Bundeswehr für Beschwerden dieser Art bestand in der Vergabe kapitaler Schmerzmittel und der Erlaubnis, für zwei Wochen in Turnschuhen herumzulaufen. Also stellte ich alle weiteren Versuche, mich eigenständig aus den Fängen der Armee zu befreien, bis auf Weiteres ein, brachte die Dienstwoche unauffällig und lustlos hinter mich, fuhr am Freitag nach Hause, betrank mich in der Druckerei, schlief bis weit in den Samstag hinein meinen Rausch aus. Irgendwann am Abend schaltete ich den Fernseher ein, zappte durch die Kabelprogramme, blieb gebannt, gefangen, bei den Bildern einer Militärparade hängen. In preußischem Exerzierschritt zogen grün, grau und blau uniformierte Gruppen eine Straße entlang, vorbei an einer Riege greiser Staatschefs, denen es erkennbar schwerfiel, ihre zitternden, altersschwachen Arme zum Gruß starr auf Kopfhöhe zu halten. Die einzige Ausnahme in dieser Farce bildete ein ostentativ reservierter Michail Gorbatschow, der seine Hand nur hin und wieder kurz an die Schläfe führte, vielleicht, um keinen Eklat zu provozieren. Es waren die Feierlichkeiten zum vierzigsten Jahrestag der DDR, und während die „Aktuelle Kamera“ des DDR-Fernsehens ihre komplette Sendezeit der Wehrhaftigkeit und den Segnungen des Sozialismus widmete, konnte man in der „tagesschau“ Bilder all jener bestaunen, die mit diesem System nicht mehr einverstanden waren und in Ost-Berlin ihren Gegenentwurf zu einer Militärparade abhielten. Es waren viele. Mir wurde übel, und ich fragte mich, ob es ein Aufbegehren meines Körpers gegen die vorabendliche, gewohnt übermäßige Dosis Alkohol war, oder ob der Anblick soldatischer Dumpfheit eine somatische Reaktion auslöste. Ein Buch kam mir in den Sinn: Zwei oder drei Jahre zuvor hatte ich Anthony Burgess’ „A Clockwerk Orange“ gelesen, wo der junge Protagonist Alex mittels obskurer Methoden von seiner Neigung zu exzessiven Gewaltorgien „geheilt“ werden sollte – zur Überprüfung des Therapiefortschritts ließ man ihn fortwährend filmische Szenen aggressiver Akte betrachten. Gegen Ende der Behandlung wand sich der an einen Stuhl fixierte Alex vor Schmerzen und Übelkeit, wenn seine Behandler ihm eine rasant geschnittene Collage menschlicher Brutalität zwischen Hitler-Reden, Vergewaltigungen, Bombenangriffen und Morden vorführten.
War ich nun Pazifist? Wollte ich mir das einreden, zur Vorbereitung auf die bevorstehende Verhandlung? Eine Art präventive Gehirnwäsche? Nein, die schlichte Wahrheit war, dass ich das soldatische Paradigma einfach zum Kotzen fand. Die stumpfe Glorifizierung von Gehorsam, Kameradschaft, Hierarchien, Gleichschaltung – all dem widersprach etwas in mir vehement. Dieses innere Wesen hatte jedoch wenig mit einem Pazifisten gemein. Es war wütend, verletzt, egoistisch und gewaltbereit. Es hätte seine Interessen auch mit Waffen verteidigt.
Der Dfg-VK tagte in einem Besprechungsraum der Druckerei. Als ich am Samstag kurz vor 15 Uhr auf den Parkplatz fuhr und Hans’ Nissan wahrnahm, überlegte ich kurz, an der Tür der noch geschlossenen Kneipe zu klopfen und mir zwei oder drei Flaschenbiere herausgeben zu lassen. Kommunikation, mit Fremden, über ein sensibles Thema – im nüchternen Zustand eigentlich undenkbar. Ich widerstand dem Verlangen, ging durch den Saal in den hinteren Bereich des Hauses und öffnete nach kurzem Klopfen die Tür mit der Aufschrift „Gruppenraum I“.
Drei Gesichter warfen mir freundliche, offene und ein wenig besorgte Blicke zu. Einen der Männer, die an einer Tischreihe hinter einem Wust von Unterlagen saßen, kannte ich flüchtig aus dem Umfeld der „Drucker“. Der mittlere der drei stand auf, kam auf mich zu und hielt mir die Hand entgegen.
„Andreas. Du bist Thomas?“
Zwei Stunden und diverse Rollenspiele später verließ ich den Raum, in den Händen lose handschriftliche Notizen, eine Liste mit Literaturempfehlungen und einen Stapel Flyer und Broschüren, den Kopf geflutet mit Myriaden existenziell wichtiger und völlig bedeutungsloser Informationen. Die Anzahl der Tische und Vorhänge im Raum, der wahrscheinliche Ablauf einer Verhandlung, Haarfarbe und -länge meiner Berater, Verhaltensregeln für noch nicht anerkannte Kriegsdienstverweigerer – mein Verstand ordnete allen frischen Informationen die gleiche Priorität zu, unterschied nicht zwischen wesentlich und vernachlässigbar, verrührte alle während der vergangenen zwei Stunden gewonnenen Auskünfte und Eindrücke zu einem gedanklichen Brei. Lerneffekt und Erkenntniswert: Null. Ich stand im Saal der Druckerei, warf einen Blick auf meine Notizen. Die nervöse Mischung aus kindlicher Krakelei und chaotischen Stenografieversuchen war nahezu unleserlich. Kryptische Halbsätze, unterstrichen, mit Ausrufezeichen und Sternchen versehen. Unbrauchbar.
Zurückgehen wollte ich nicht. Meine Berater hatten sich jede erdenkliche Mühe mit mir gegeben, mir geduldig, ausführlich und einfühlsam alles Notwendige erklärt. Drei Menschen hatten ihre Zeit für mich geopfert. An einem Samstagnachmittag, den sie weitaus angenehmer hätten verbringen können. Vermutlich tauschten sie sich in diesem Augenblick darüber aus, was sie mit dem freien Rest des Tages anstellen würden. Sie zu bitten, ihre Ausführungen und Ratschläge erneut vorzutragen, käme einem Affront gleich. Und ich, ich würde selbst nach einer Wiederholung nichts begriffen haben.
Ich brauchte ein Bier.
Die Kneipe war noch nicht geöffnet. Ich ging ums Haus, sah Hans durch ein Fenster in der Küche werken, klopfte an die Scheibe. Er blickte auf und machte sich auf den Weg zur hinteren Außentür, um mich einzulassen. Ich setzte mich an die Theke. Hans begann, die Kneipe für die abendliche Öffnung vorzubereiten, verteilte Aschenbecher auf den Tischen, füllte den Kühlschrank auf, schraubte die Zapfhähne an.
„Kaffee oder Pils?“
„Pils null vier. Zwei.“
Nach dem ersten Bier besah ich erneut meine Unterlagen. Langsam kehrten bruchstückhafte Erinnerungen an das Gespräch mit den Mitgliedern des Dfg-VK zurück. Es würde nicht einfach werden, hatten sie gesagt. Ich müsse glaubhaft schwere Gewissensnöte darlegen, die mir den Dienst an der Waffe untersagten. Ursache für diese Nöte könne entweder ein Schlüsselerlebnis oder ein intensiver, langer Prozess der Wandlung sein. Diese ausführliche Begründung sei zusammen mit einem formalen Antrag, einem polizeilichen Führungszeugnis, und einem Lebenslauf beim zuständigen Kreiswehrersatzamt in Detmold einzureichen. Zwei oder drei schriftliche „Zeugenaussagen“ von Vertrauenspersonen, die den Antrag unterstützten, könnten auch nicht schaden. Für die anschließende mündliche Verhandlung sei es hilfreich, mir als Begleitung einen Beistand zu suchen.
Mein Vorhaben war unmöglich. Wie sollte ich argumentieren? Es gab keinen Wandlungsprozess und schon gar kein „Schlüsselerlebnis“. Ich wollte einfach nur weg von der Bundeswehr, hielt es dort nicht mehr aus. Es war ein unbändiger innerer Drang, mich einer Umgebung zu entziehen, die mich unweigerlich zerstören würde. Einen Gewissenskonflikt fühlte ich nicht. Hier ging es nicht um die Unmöglichkeit, Menschen zu töten. Hier ging es um die Unmöglichkeit, unter ihnen zu leben.
Hans kam zu mir. „Probleme?“
Ich nickte.
„Du warst beim Dfg-VK“, stellte er mit Blick auf die vor mir ausgebreiteten Unterlagen fest. „Kommst du voran mit deiner Verweigerung?“
Ich berichtete von dem vergangenen Gespräch und den Hürden, die es nun zu bewältigen galt. Hans hörte aufmerksam zu. Als ich geendet hatte, füllte er zwei Schnapsgläser mit Tequila, stellte eine Untertasse mit Zitronenscheiben und einen Salzstreuer auf den Tresen. Wir folgten dem üblichen Zeremoniell bei diesem Getränk: Zitronensaft auf die Hand, Salz darauf, alles ablecken, Tequila herunterstürzen, in die Zitronenscheibe beißen. Noch zweimal wiederholten wir das Procedere, dann kehrte mit der sich in meinem Körper ausbreitenden Wärme ein kleines Stück Zuversicht zurück.
Hans dachte laut nach. „Eine dieser sogenannten Zeugenaussagen könntest du dir beim HPM holen. Was die zweite angeht: Kirche kommt immer gut.“
Was auch immer Hans dazu bewog, Klaus, den pädagogischen Mitarbeiter der Druckerei, stets etwas abfällig als „HPM“ zu titulieren – es war ein guter Vorschlag. Ich hatte einen guten Draht zu Klaus und war sicher, dass er ein wohlgesonnenes, intelligentes Schreiben aufsetzen würde. Auch mit der Kirche könnte ich Glück haben: Ich hatte einige Zeit dort in einem Helferkreis mitgearbeitet, der die sonntäglichen Kindergottesdienste begleitete. Der betreuende Pastor war ein gutherziger und, für einen Theologen, progressiver und offener Mensch.
„Und an deiner Stelle würde ich mit Roman sprechen. Der kann dir bestimmt mit deiner Begründung helfen und wäre auch ein guter Beistand bei der Anhörung.“
Roman war Mitarbeiter im Kneipenteam. Er war vielleicht zwei Jahre älter als ich und studierte in Bielefeld Soziologie. Neben Hans war er im Umfeld der Druckerei das zweite Vorbild, zu dem ich aufblickte und das ich unablässig zu kopieren suchte. Roman platzte fast vor Selbstbewusstsein, seine rhetorischen Fertigkeiten bildeten eine Bandbreite zwischen chirurgischem Feinwerkzeug und panzerbrechenden Waffen. Sein äußeres Erscheinungsbild war betont leger, aber nie nachlässig. Halboffenes kragenloses Hemd, die Ärmel hochgekrempelt, Designerjeans, Bootsschuhe, keine Socken. Längeres dunkles Haar, gepflegter Vollbart. Eine Art Messias der 80er Jahre. Begrenzt wurde dieses Ego nur durch seinen häufig anwesenden Vater, einer älteren, um 40 Jahre erfahreneren Ausgabe des Sohnes. Ich mochte Roman, schaute weit zu ihm auf, empfand ihn im Gegensatz zu Hans aber häufig als einschüchternd, wagte es nicht, in seiner Nähe eine eigene Meinung zu vertreten, war selbst unter Alkoholeinfluss blockiert, klein, stumm. Doch eins konnte ich nicht verleugnen: Als Unterstützer und Mentor bezüglich meiner Kriegsdienstverweigerung wäre er die perfekte Person.
Auf einmal war da Hoffnung. Ich musste nicht mehr allein in den bevorstehenden Kampf gegen den übermächtigen Gegner ziehen. Verbündete erschienen auf der Bildfläche. Verbündete, die nicht nur gut zureden, sondern handeln würden. Ich sah Hans an, der sich der spontanheilenden Wirkung seiner Vorschläge offenbar nicht ganz bewusst war.
„Danke, Mann! Danke! Lass mir mal noch eins ein.“ Ich schob ihm mein Glas rüber.
Ich betrank mich auch an diesem Abend wieder. Doch dieser Rausch war unvergiftet von Verzweiflung und Hilflosigkeit. Er war rein.
An diesem Abend hatte er die Leichtigkeit eines brasilianischen Karnevals.
In Rendsburg reichte ich am Montag für die darauffolgende Woche einen Urlaubsantrag ein, sicherheitshalber mit dem Hinweis versehen, ich hätte „dringende familiäre Angelegenheiten“ zu klären. Noch am Nachmittag bekam ich den Antrag unterschrieben und genehmigt zurück.
Zu Beginn der freien Woche suchte ich Klaus, den Pädagogen der Druckerei auf, schilderte ihm meine Lage, und bat ihn um Unterstützung. Er sicherte mir zu, noch am gleichen Tag ein Schreiben zu gestalten, das mich als zutiefst friedfertigen Menschen und überzeugten Pazifisten darstellte. Auch der Pastor, den ich tags darauf morgens telefonisch kontaktierte und nachmittags zuhause besuchte, versicherte mir seine Hilfe. Roman traf ich eines Abends in der Druckerei an. Er erklärte sich augenblicklich bereit, zusammen mit mir eine Begründung für die Verweigerung aufzusetzen. Auch seine Begleitung als Beistand zur Anhörung sagte er ohne Zögern zu. Mir schien es, als würde er sich primär zu seiner eigenen Erbauung darauf einlassen, vielleicht als kleines, willkommenes Abenteuer, vielleicht auch, um seinen herausragenden Status innerhalb der Druckereigemeinde weiter zu untermauern. Mir war es gleich. Ich nahm seine Mitwirkung dankbar an, und wir verabredeten uns für den Samstag zwei Wochen später.
Der Fernseher lief, als ich bei Roman eintraf. Verwundert darüber, was ihn bewogen haben mochte, sich der erbarmungswürdigen Mischung eines Nachmittagsprogramms aus Heimatfilmen, Kinderfernsehen und tristen Sportübertragungen auszusetzen, blickte ich auf den Bildschirm. Zu sehen war eine Mauer, auf der Menschen umherspazierten. Menschen mit einem Gesichtsausdruck zwischen Glück und Fassungslosigkeit, manche mit Tränen in den Augen. Es war die Mauer, die Günter Schabowski, Mitglied des Zentralkomitees der SED, zwei Tage zuvor versehentlich geöffnet hatte. Ich war fasziniert von diesen Bildern, die ausufernde Freude dieser Menschen übertrug infizierte und beflügelte mich. Wenn diese Menschen es geschafft hatten, einen autoritären Staat in die Knie zu zwingen, dann musste es mir doch gelingen, mein eigenes, kleines Stückchen Freiheit in dieser Welt zu erreichen.
Roman und ich machten uns an die Arbeit. Wir bauten eine Argumentation auf, die der Logik folgte, dass durch meine intensiven Kontakte mit dem linksalternativen und pazifistischen Milieu des Begegnungszentrums Druckerei ein grundlegender Sinneswandel erfolgt war, was meine Einstellungen zu Friedenspolitik und Dienst an der Waffe anging. Bildhaft schilderten wir einige fiktive und dennoch (unserer Meinung nach) sehr glaubwürdige Schlüsselerlebnisse innerhalb dieses Milieus, die nahezu zwangsläufig eine inneren Umkehr hin zu einem Paradigma völliger Gewaltlosigkeit zur Folge hatten. Roman redete und schrieb sich in Rage, der Protagonist war nicht länger ich, sondern er. In diesem Moment lebte er mein Leben, mit meinen Nöten, meinen Zielen. Seine Schilderungen und Argumente waren für mich so bestechend plausibel, dass ich nicht wagte, ihn in seinem Redeschwall zu unterbrechen. Gebannt verfolgte ich, wie sich eine Idee an die nächste reihte und sich scheinbar lose Gedanken zu einem Kausalstrang formierten, der am Ende nur eine Schlussfolgerung zuließ: Dieser Mann kann kein Soldat sein.
Später fuhren wir gemeinsam zur Druckerei. Während Roman die Kneipe für den Abend vorbereitete, setzte ich mich im Büro des Kulturzentrums an die elektrische Schreibmaschine und tippte mit zwei Fingern den Text ab, in dem es zwar um mich ging, der aber optisch und inhaltlich nur so wenig meiner Handschrift entsprach. Trotzdem war ich beseelt und voller Zuversicht, als ich zu fortgeschrittener Stunde meine kompletten Antragsunterlagen, inklusive der Stellungnahmen von Klaus und dem Pastor, in einem frankierten DIN A4 Umschlag, der als Empfänger die Adresse des Kreiswehrersatzamtes in Detmold trug, vor mir auf dem Schreibtisch liegen hatte. Einen feierlichen Moment blickte ich den Umschlag ehrfürchtig an, ließ mich noch kurz auf ein Bier in der Kneipe nieder, dankte Roman, und fuhr durch die Nacht nach Hause einem Sonntag entgegen, welcher einiges vom seinem gewohnten Schrecken verloren hatte.
Am nächsten Morgen wurde mir schlagartig bewusst, dass ich vergessen hatte, eine Kopie des Antrags anzufertigen. Auch war es wohl ratsam, ihn per Einschreiben anstatt mit der normalen Post zu verschicken. Bevor ich nach Rendsburg fuhr, warf ich den Umschlag, versehen mit einer Notiz an Klaus, in den Briefkasten der Druckerei. Vor der Autobahn machte ich an einer Telefonzelle halt, suchte die Privatnummer des Druckereipädagogen heraus, rief ihn an und bat ihn, die Unterlagen am nächsten Tag nach einer Vervielfältigung als Einschreiben auf die Reise zu schicken. Er versprach es, und beruhigt verließ ich die Stadt Richtung A2.
„Gefreiter Thomsen! Zum Kompaniechef! Jetzt sofort! Marsch Marsch!“
Etwas mehr als zwei Wochen waren vergangen, seit mein Antrag seinen Weg zum Empfänger eingeschlagen hatte. Jetzt stand der Unteroffizier Rogowski gewohnt breitbeinig vor mir, sein spitzbübisches, rotzlöffeliges Grinsen erinnerte mich an Martin Semmelrogge in „Das Boot“. Im Gegensatz zu den meisten anderen Zeit- und Berufssoldaten war er mir nicht gänzlich unsympathisch. Ich mochte ihn sogar ein bisschen, und mir schien, als beruhe das auf Gegenseitigkeit. Zwar genoss Rogowski seine Macht über andere offensichtlich, nahm seine Aufgabe bei der Bundeswehr allerdings nicht allzu ernst. So erging es mir nun mit dem Kommando „Marsch Marsch“. Ich machte mich eher gemächlich auf den Weg, gefolgt von einem dröhnenden „Ey, Tempo“, dessen Klang deutlich anzuhören war, dass bei Nichtbefolgung keine Repressionen drohten. Der Unteroffizier war heute gut gelaunt.
Auch der Kompaniechef schien einen guten Tag zu haben. Ein amüsiertes Grinsen umspielte seine Mundwinkel.
„So, Sie wollen also den Wehrdienst verweigern. Ihnen ist sicher bewusst, dass Sie mit dieser Farce keine Chance haben.“
Ich schwieg.
„Man wird Ihr bisheriges Verhalten zur Kenntnis nehmen, das spricht eindeutig gegen Sie“, fuhr er fort. „Auch meine Beurteilung wird eindeutig ausfallen. Gewöhnen Sie sich also an den Gedanken, ihre Zeit bei der Truppe vollumfänglich abzuleisten.“
Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück, sah mich unverwandt an, schien auf eine Reaktion meinerseits zu warten. Ich fühlte mich nicht imstande zu einer Replik; diese ruhige, sachliche und überaus selbstüberzeugte Intonation des Kompaniechefs stahl mir mit jedem ausgesprochenen Wort ein Stück der fragilen Zuversicht in mein Unterfangen. Hilflos stand ich vor ihm, mit dem einzigen Wunsch, dass dieser Moment so schnell wie möglich ein Ende finden möge.
Der Hauptmann betrachtete mich weiter, ich musste meinen Blick senken, hielt dieses ungleiche Duell nicht aus, unterwarf mich. Dies schien das Signal zu sein, auf das er gewartet hatte. Er löste seine Fixierung, stand auf, ging zum Fenster, sah hinaus.
„Bis zur Verhandlung sind Sie vom Dienst an der Waffe befreit. Sie werden nicht mit auf Übungen fahren, keinen Stahlhelm tragen, und auf den Rang eines Gefreiten zurückgestuft. Ich werde Sie im Lager als Materialwart einsetzen. Nach der Verhandlung sehen wir weiter. Wegtreten.“
Die Tage im Materiallager waren um ein Vielfaches angenehmer als der reguläre Dienst. Ich war die meiste Zeit für mich allein, hatte mit dem militärischen Alltag nicht mehr viel zu tun. Durch die willkommene Entfremdung kehrte ein wenig der verloren geglaubten Zuversicht zurück. Hin und wieder suchte mich der ein oder andere einfache Soldat an meinem neuen Arbeitsplatz auf, bat um eine Rolle Panzerband oder einen Satz Erdnägel. Den größten Teil der Zeit verbrachte ich allein, führte Inventuren durch, bestellte Material, las Romane, hing meinen Gedanken nach. Vorgesetzte ließen sich nicht blicken.
Anfang März wurde ich erneut zum Kompaniechef gerufen. Er empfing mich mit der gewohnt emotionslosen Attitüde.
„Ihr Verhandlungstermin ist auf Dienstag, den 20. März festgesetzt. Sie erscheinen um Zehn Null Null beim Kreiswehrersatzamt Detmold und melden sich dort wie befohlen. Sie erhalten für diesen Tag Sonderurlaub. Heimfahrt also am Montag davor. Am Mittwoch melden Sie sich um Acht Null Null beim Kompaniechef zurück zum Dienst. Wegtreten.“
Als ich am 20. März frühmorgens in Bad Oeynhausen das Haus verließ, fühlte ich mich nicht in der Lage, ein Kraftfahrzeug sicher durch den Straßenverkehr zu führen, schon gar nicht auf unbekannter Strecke. Den verdutzten Eltern hatte ich bei meiner Ankunft am Tag zuvor etwas von ein paar Tagen Sonderurlaub aufgrund einer vergangenen Übung vorgelogen. Der Versuchung am Vorabend, mich in einer Kneipe volllaufen zu lassen, hatte ich schweren Herzens widerstanden, wobei mir an diesem Dienstagmorgen ein kapitaler Kater lieber gewesen wäre als das Gefühl, freiwillig den Ort der eigenen Hinrichtung aufzusuchen.
Roman saß auf dem Beifahrersitz, ungewöhnlich still, die Straßenkarte auf dem Schoß. Die meiste Zeit blickte er aus dem Seitenfenster, ließ nur gelegentlich eine knappe, völlig überflüssige Bemerkung zur vorbeiziehenden Landschaft fallen.
„Windmühle.“
„Was?“
„Eine Windmühle. Da hinten war eine Windmühle.“
„Ach so. Schön.“
„Ja, schön.“
Das Kreiswehrersatzamt war ein typisch phantasie- und farbloser, abstoßender Behördenbau, außen wie innen. Was machte solch ein Klotz mit den Menschen, die sich jeden Tag von ihm schlucken ließen, um darin ihrer Arbeit nachzugehen? Führte ein längerer Aufenthalt in diesem Gebäude nicht zwangsläufig zu einer schleichenden Kontamination des Bewusstseins mit dessen Kälte und Tristesse? Gnade war hier nicht zu erwarten. Gnade erforderte Empathie, und Empathie konnte an diesem Ort keine Heimat finden.
Der auf der Vorladung angegebene Raum befand sich im zweiten Stock am Ende eines langen Flurs. An der Tür befand sich ein Schild mit der Aufschrift „Eintreten nur nach Aufforderung“. Wir nahmen auf zwei Stühlen gegenüber der Tür Platz und warteten. Es war Viertel vor zehn. Eine halbe Stunde öffnete sich die Tür. Eine etwas bieder wirkende männliche Gestalt im Rentenalter erschien und blickte auf einen Zettel in ihrer Hand.
„Herr Thomsen?“
Ich nickte.
„Kommen Sie.“
Der Raum, in den wir eintraten, war riesig. Der rückwärtige Bereich wurde durch eine große Bühne ausgefüllt. Die Szenerie erinnerte an eine Schulaula. Auf der Bühne standen aneinandergereiht mehrere Tische, hinter denen vier Männer saßen. Sie alle ähnelten in ihrer Erscheinung demjenigen, der uns eingelassen hatte: fortgeschrittenes Alter, konservatives Jacket oder Strickjacke mit Krawatte, harmlose Spießigkeit. Ich war erleichtert. Spürte, wie ein Teil meiner Nervosität von mir abfiel. Ausgemalt hatte ich mir im Vorfeld ein unerbittliches Tribunal, als Protagonist eine Reinkarnation Roland Freislers in einem unheilvoll schreiend roten Talar, flankiert von finster feindselig dreinblickenden Armeegenerälen, die Gesichtszüge zementiert durch Vorverurteilung. Was ich nun vor mir sah, wirkte eher wie die Jahreshauptversammlung eines Kaninchenzuchtvereins.
„Setzen Sie sich“. Der Einlassgeber wies auf einen vor der Bühne stehenden Tisch mit zwei Stühlen und begab sich anschließend zu seinen Kollegen in die erhöhte Position.
Der Mann in der Mitte ergriff das Wort. Geschäftsmäßig und routiniert ließ er sich von mir dir Korrektheit meiner Personalien bestätigen, erläuterte Zweck und Ablauf der Verhandlung, verlas den Sachverhalt. Zum Ende seiner Ausführungen nahm er Notizen in seinen Unterlagen vor. Eine Pause entstand. Ich wusste, dass es nun zur Befragung kommen würde, zum Verhör. Spürte, wie die Angst die Feuchtigkeit durch die Haut meiner Handflächen trieb. Ich blickte zu Roman, fand in seiner Ruhe einen Anker, einen sicheren Hafen für meine Konzentration. Es konnte beginnen.
Natürlich hatte ich mich auf alle Fragen vorbereitet, die man mir laut meiner Berater unweigerlich stellen würde. Die Fangfragen, welche in ihrer Hinterhältigkeit und eigenen Logik nur eine einzige valide Antwort zuließen. Ich wusste, was zu erwidern war, wenn Freisler sich erhob und seine Hasstiraden durch den Gerichtsaal dröhnte: „Sie! Sie sind doch Abschaum! Was tun Sie denn, wenn der Russe Ihre Tochter schändet“. Unzählige Male hatte ich das Szenario im Kopf durchgespielt.
Auf die Fragen, die tatsächlich folgten, war ich nicht vorbereitet.
„Auf welcher Schreibmaschine haben Sie Ihre Verweigerung geschrieben? War es eine elektrische? Wem gehörte sie?“
„Wie ist das ‚Begegnungszentrum Druckerei‘ organisiert? Gibt es einen Hauptverantwortlichen?“
„Was werden Sie tun, wenn wir Sie heute aus der Bundeswehr entlassen?“
„Sind Sie mit dem eigenen Fahrzeug zu dieser Verhandlung gekommen?“
Es wurden durchweg Fragen gestellt, die leicht zu beantworten waren. Fragen, die nicht im Entferntesten mit meinem Sinneswandel und meiner neuen Einstellung zum Soldatsein zu tun hatten. Fragen, deren Antwort nichts zu einer Entscheidungsfindung beitragen konnten. Es waren Fragen von Menschen, die ihr Urteil bereits gefällt hatten.
Ich war am Boden zerstört. Verschwommen nahm ich wahr, wie Roman angeboten wurde, ein Schlusswort zu halten. Er lehnte sich zurück, schloss in seiner unnachahmlich überheblichen Mimik kurz die Augen, wie um seine Geduld mit seinen minderbemittelten Zuhörern zu demonstrieren, und begann zu reden.
„Nun stellen Sie sich mal vor, Sie haben da einen Stuhl, den Sie blau gestrichen haben. Und nun wollen Sie den auf einmal rot streichen.“
Ich hörte nicht mehr, wie Roman sein Plädoyer fortführte. Kurz konnte ich noch die fünf Männer auf der Bühne betrachten, deren vormals emotionsloser und undeutbarer Gesichtsausdruck in offene Skepsis überging, Der Vorsitzende runzelte die Stirn, sein Nebenmann verschränkte die Arme vor der Brust. Mehr bekam ich nicht mit. Erst als mich jemand ansprach, fand ich zurück in die bittere Realität.
„Herr Thomsen, nehmen Sie noch einen Moment vor der Tür Platz. Wir beraten uns.“
Auf dem Flur blickte ich Roman erneut an. Er schien nicht weniger niedergeschlagen als ich. Ob seine Trauer egoistischer oder altruistischer Natur war, war mir egal. Halt und Hilfe waren hier nicht mehr zu finden, und nur das zählte.
Jemand kam den Gang entlang auf uns zu. Das Klacken hoher Absätze, eine weibliche Stimme. Ein Briefumschlag vor meinen Augen.
„Herr Thomsen? Bitte übergeben Sie dieses Schreiben Ihrem Kompaniechef.“
Ich betrachtete den Brief. Die Demütigung, diese Nachricht meinem Widersacher persönlich überbringen zu müssen, machte die Niederlage perfekt.
„Das ist an mich adressiert, nicht an den Hauptmann. Kann ich es öffnen?“
Die Botin wirkte unschlüssig, bejahte aber nach kurzem Zögern. Ich riss den Umschlag auf, überflog das Formular. Paul Thomsen … 3 FmBtl 610 … Laut Beschluss vom 20.03.1990 … Gemäß § … Anerkannt … Seine Dienstzeit endet gemäß § … Kriegsdienstverweigerungsgesetz … am 20.03.1990 … .
„Ab sofort? Wirklich ab sofort?“, fragte ich die Überbringerin.
„Soweit ich weiß, ja. Das gilt ab sofort.“
Schabowski, dachte ich und blickte Roman an. Er grinste.