Crisis? What Crisis?

ADHS Blog Corona Shutdown

März 2020

Morgens um sieben ist die Welt noch in Ordnung. In der Küche läuft leise das Radio. Deutschlandfunk – unaufgeregt, pragmatisch. Keine überdrehte „Morningshow“, in der bis zum Erbrechen gutgelaunte Moderatoren einen mit Belanglosigkeiten beschießen, als ständen sie seit Sonnenaufgang unter einer Überdosis Amphetamin. Nur die wohltuende Geräuschkulisse einer Dusche, einer Kaffeemaschine, zweier Katzen, gefüttert und zufrieden.
Dann raus in den Albtraum jedes Reizoffenen. Der junge Tag stellt seine Fallen auf. Die erste: Linksabbieger im Berufsverkehr. Von rechts ein Schulbus, der will hier rein. Ich muss zurücksetzen, das gebietet mir zumindest ein wild winkender Busfahrer. Der ist auch schon mit den Nerven runter. Hinter mir ein adrenalingesättigter Jüngling, ganz Ungeduld, aufgepumpt von Bassboxen, die meine Scheiben vibrieren lassen. Der setzt nicht zurück, der kennt nur eine Richtung. Von links kommt der Handwerker, der hier jeden Morgen gegen die Zeit anfährt. Benutzt die Tempo-30-Zone als Abkürzung. Denkt sich, dass zwei Tempo-30-Schilder zusammen 60 ergeben. Muss auch 60 fahren, ansonsten wäre es ja keine Abkürzung. Weiter geht’s. Autobahn. Fahre auf die linke Spur; die rechte ist von Sattelzügen okkupiert, als Lebendfalle für Kleinwagenfahrer. Hinter mir jetzt einer dieser Panzer, Sport Utility Vehicle. Hier ist Tempo 80, ich fahre 110, zu langsam für den sportlichen Panzerfahrer. Der blendet auf, rastet in seinem schwarzen Käfig völlig aus, nur sein Gurt hält ihn im Sitz. Warum haben diese Genitalpumpen eigentlich immer ein „XX“ im Kennzeichen? Soll das bedrohlich sein? Steht das für die Anzahl der Abschüsse, wie an der Flanke eines Kampfflugzeugs? Egal. Abfahrt kommt. Ich muss rüber, blinke rechts. Da, der polnische Lkw-Fahrer lässt mich rein. Oder täuscht der nur an? Nein, der meint das ernst, ist vielleicht Philanthrop. Ich fliege durch die Lücke, erwische gerade noch die Abfahrt, darf kurz durchatmen. Noch zwei Kilometer bis zur Firma. Meine Gegner sind jetzt andere: Aus vier Rädern wurden zwei, dafür hat sich ihre Rasanz verdoppelt. Dichte Wolken eiliger Radfahrer. Zur Uni, zur Schule, zur Arbeit, ins Grab, möglichst schnell. Ampeln sind Kosmetik, Regeln nur Rat. Wie aggressive Wespen kommen sie aus allen Himmelsrichtungen; Oldenburg ist Amsterdam light, nur ohne Radwege.
Endlich auf dem Firmenparkplatz. Tasche, Tabak, Telefon – nichts vergessen, alles dabei. Nur das Nervenkostüm ist irgendwo auf der Strecke geblieben. Ins Büro, Kollege ist schon da. Fängt an zu erzählen, von Wochenende, von Kind, von Politik, von Firma. Erzählt im Tempo des Panzerwagenfahrers, der sich bestimmt schon bis Osnabrück gedrängelt hat. Ich hänge im Stuhl, mir reicht es. Es ist gerade acht Uhr, aber für meinen Verstand ist der Tag schon gelaufen. Der verabschiedet sich gerade aus der Realität in den Snoezelraum der Phantasie. Ist zutiefst beleidigt, kommt erst gegen Abend wieder raus. Der zurückgebliebene, klägliche Rest übernimmt mürrisch die Sozialfunktionen. Lächeln, Nicken, Antworten: Ja, Nein, Vielleicht, Später. Klagt ohne Unterlass, fleht mich an: Ich hab ADHS, hol mich hier raus!

Shutdown

April 2020

Auf dem Weg zur Arbeit. Die Straße gehört mir. Nein, nicht ganz. Rehe, Hasen, Katzen haben ihr Revier erweitert, bewegen sich gemächlich auf dem einsamen Asphalt. Die Autobahn döst gelangweilt in der Morgensonne. Hat jetzt viel Zeit zum Nachdenken, fragt sich, was los ist. Ölkrise, Virus – woher soll so eine Autobahn das auch wissen? Ich fahre 60, genieße ein Gefühl von Freiheit auf dieser norddeutschen Route 66. Würde am liebsten den ganzen Tag so weiterfahren, durch ein Land im friedlichen Dämmerschlaf. Nehme aber die gewohnte Abfahrt, stelle entspannt fest, dass der Wespenschwarm von Radfahrern arg dezimiert ist, wie durch ein Gift. Den Überlebenden hat das Gift die Angriffslustigkeit genommen; sie schweben sanftmütig die Straßen entlang.
Die Firma ein Hort der Ruhe. Fast alle im Home Office. Die Verbliebenen gedämpft, fast eingeschüchtert von dieser Ruhe. Das ADHS-Gehirn schmiegt sich sanft an diesen entspannten Tag und schnurrt wohlig. Wünscht sich, dass es immer so bleibt. Belohnt mich mit konzentrierter Mitarbeit.
Um 9 kommt der Chef, setzt sich auf den Platz mir gegenüber, sieht mich an, als wären gerade nicht nur seine, sondern auch meine Eltern verstorben. „Wir gehen ab heute in die Kurzarbeit. Vorläufig bis Ende Juni. Du kannst nach Hause fahren und ich melde mich, wenn es weitergeht“. In meinem Kopf beginnen zwei bekannte Spieler ein zügiges Kartenspiel. Neurotypisch gegen Neurodivers. Neurotypisch grinst diabolisch, haut ein Ass auf den Tisch. „Angst“ steht auf dem Ass. Der Konter folgt umgehend. In schneller Folge fliegen drei weitere Karten auf den Tisch und verdecken das Ass. Es sind die Joker „Selbstbestimmtheit“, „Ruhe“, und „Seelenfrieden“. Neurodivers gewinnt, haushoch. „Schade, das ist traurig“, sage ich zum Chef und denke das Gegenteil. „Krise? Was für eine Krise?“ überlege ich, während ich auf der Route 66 zurück nach Hause fahre und mich auf eine Zeit freue, die meinem ADHS-Kopf eine Atempause verschafft und ihn sich mit den Dingen beschäftigen lässt, die er sich wünscht.

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