Das „Begegnungszentrum Druckerei“ war ein typisches Kulturzentrum, wie sie Ende der 70er Jahre in vielen kleinen und mittelgroßen Orten aus engagierten Bürgerinitiativen entstanden waren. Der Zauber des Aufbruchs, die Euphorie des Widerstands gegen das muffige Kulturleben einer Kleinstadt, das erhebende Gefühl, „Macher“ zu sein – davon war in den ausgehenden 80ern nicht mehr viel zu spüren. Bei den Kulturschaffenden zeigten sich Ermüdungserscheinungen. Nächte überdauernde Grundsatzdebatten zwischen Merlot und Manifesten, Zigarillos und Zukunftsvisionen an klebrigen Runden Tischen hatten den Leuchttürmen alternativer Kultur ihr Fundament entzogen und sie zu unstet flackernden Laternen geschrumpft.
Ein böses Wort machte die Runde unter den Beteiligten. Anfangs hinter vorgehaltener Hand, dann zunehmend lauter: Pragmatismus.
Noch im selben Jahr sollten die weniger idealistisch veranlagten Protagonisten ein weiteres, ungeheuerliches Substantiv aus dem Hut zaubern: Der Ruf nach „Gewinn“ traf all jene bis ins Mark, die sich bislang exzessiven Träumereien einer freien, anspruchsvollen Kultur von Unten hingegeben hatten. Wo jetzt noch an Samstagabenden experimentelle Jazzklänge im Veranstaltungssaal drei Besucher zu intellektuellem Stirnrunzeln und forschem Fußwippen veranlassten („vor kleinem, aber interessiertem Publikum“, schrieb die lokale Presse), sollten schon bald prall gefüllte Stuhlreihen für volle Kassen sorgen. Man versprach sich einiges davon, das Angebot im Hinblick auf die doch eher kleinbürgerliche Oeynhausener Mehrheit zu profanisieren.
Ein tiefer Riss ging durch den Vorstand des Vereins. Einige stellten sich auf die Seite des betriebswirtschaftlich denkenden Vorsitzenden, andere scharten sich um den Hauptamtlichen Pädagogischen Mitarbeiter. Die zukünftige Richtung blieb für lange Zeit unklar, der Selbstfindungsprozess wurde zum Selbstzweck.
Ich hatte die Druckerei zum ersten Mal 1986 betreten. Der Laden bot jungen lokalen Bands eine Bühne für die erste Konfrontation mit einem Publikum, das nicht nur aus Freunden oder Familie bestand. Als Bassist einer dieser Bands stand ich eines Samstagnachmittags mit Instrumentenkoffer und einem schwachbrüstigen Verstärker in der Kneipe des Begegnungszentrums.
Die Luft war erfüllt vom Gestank kalten Rauchs und abgestandenen Biers. Aus zwei übergroßen, unter der Decke hängenden Lautsprechern dröhnten Bachs Brandenburgische Konzerte. Schmierige Gläser und ein Dutzend überstrapazierte Aschenbecher säumten einen abgenutzten Tresen. Auf den Tischen weitere Gläser, manche noch mit einem Rest Flüssigkeit. Durch eine großflächige Fensterfront bahnten sich Sonnenstrahlen einen Weg. Trübe Scheiben und hängende Schwaden konnten sie nicht davon abhalten, die sträfliche Vernachlässigung dieses Gastraumes anzuprangern. Zu sehen war niemand.
Unschlüssig stand ich in der Mitte des Raumes. Nervosität gewann zunehmend die Überhand über die arrogante Attitüde des sich selbst überschätzenden Kleinstadtmusikers. Eine sorgfältig von Profis kopierte Fassade, die ich mir als Mantel für meine Unsicherheit zurechtgelegt hatte, löste sich unter dem Bach’schen Cembalohagel in Staub auf. Meine Hände wurden feucht, nass, der schwere Basskoffer drohte mir aus den Fingern zu gleiten. Ich wollte mich umdrehen, die Kneipe schnell verlassen, auf dem sicheren Parkplatz auf die anderen Mitglieder der Band warten.
Da sah ich ihn. Im Türrahmen hinter dem Tresen lehnte eine Gestalt, wie ich sie mir als Kind einer pathologisch hygieneversessenen Mutter nicht abstoßender hätte vorstellen können. Als erstes nahm ich einen Wollpullover wahr, in Farben und Muster aus der Zeit gefallen, ein gestrickter LSD-Trip. Rote Karos, eingerahmt von grellem Grün, Hand in Hand tanzend mit undefinierbaren, bunten geometrischen Formen. Seit der Hippiebewegung musste jährlich mindestens ein Loch, ein dunkler Fleck, ein Brandmal dazugekommen sein. Vor diesem Pullover eine Hand, glänzend schmierig, wie in Altöl getaucht. Unter den Fingernägeln schwarze Halbmonde. Zu einem O geformt, umfassten Daumen und Zeigefinger eine Nadel, an deren Ende der qualmende Stummel einer filterlosen Zigarette aufgespießt war. Angeekelt, fasziniert, folgte ich mit den Augen der Hand, die sich gemächlich aufwärts bewegte. Lange, vereinzelt gekräuselte Haare am faltigen Hals kündigten einen formlosen Zottelbart an, der sich nicht auf eine Farbe festlegen wollte; wie die erstaunlich langen, trotzig aufgerichteten Relikte des vorderen Deckhaars. Alles irgendwo zwischen Braun, Grau, Blond. Über der linken Schulter lag wie eine schlafende Schlange ein dunkelbrauner, mit Gummiband gebändigter Zopf. Der Mann mochte Ende Dreißig sein, wäre aber ebenso gut als jenseits der Fünfzig durchgegangen.
Aus dem verhärmten Gesicht wurde mein Blick erwidert. Seelenruhig musterte die Gestalt mich aus zu Schlitzen zusammengekniffenen Augen. Vermutlich war diese Mimik nur Resultat der absurd kurzen Kippe zwischen seinen Lippen, deren Fahne den Raucher distanzlos umhüllte. Ich interpretierte sie als Misstrauen.
Mein Verhalten Fremden gegenüber war schon immer von Schüchternheit, wenn nicht sogar Ängstlichkeit geprägt. Begegnete mir jemand mit natürlichem Selbstvertrauen, zog sich mein Intellekt schlagartig in eine dunkle Kammer zurück, schlug die Tür zu und schob von innen einen Riegel vor. Durch einen winzigen Spalt unter der Tür wurde mein Bewusstsein spärlich mit dem Nötigsten versorgt: einem kindlich-naiven Wortschatz, schockgefrosteter Physiognomie, dezimierter Reizaufnahme. Ich muss in diesen Momenten das Bild eines leicht unterbelichteten, hilflosen Individuums abgegeben haben, das zu nichts wirklich zu gebrauchen ist. Bis heute bestimmt dieses Gefühl von Hilflosigkeit und eingeschränkter Handlungsfähigkeit den Verlauf aller Begegnungen, für die ich noch keine Routine entwickeln konnte. Bis heute versuche ich, diese Art Begegnungen zu vermeiden.
Der Mann aus dem Türrahmen setzte sich in Bewegung. Er ging hinter die Theke, griff nach etwas für mich Unsichtbarem. Der Lautstärkepegel der Musik nahm gemächlich ab, erreichte schließlich das unaufdringliche Niveau eines Kaffeehauses. Die wohltuende Ruhe löste meine Starre, ließ mich etwas entspannen. Ich setzte mein Gepäck ab, steuerte auf den Tresen zu und brachte ein zaghaftes „Hallo“ hervor, das durch ein knappes Nicken erwidert wurde.
„Tach. `N Bier?“ Grenzenlos erleichtert über diese Offerte, bejahte ich und setzte mich auf einen der Hocker vor der Theke. Alkohol war seit einigen Jahren meine bevorzugte Wahl, wenn es darum ging, den Dämon sozialen Versagens auf unbekanntem Terrain im Zaum zu halten. Nach drei, vier Bier fiel zuverlässig jede Unsicherheit von mir ab, der Puls beruhigte sich merklich, ich wurde aufnahmefähig und konzentriert. Konversation war nicht länger ein verkrampfter Versuch, mutmaßlichen Erwartungen des Gegenübers gerecht zu werden. Was sich im nüchternen Zustand anfühlte wie ein Verhör, ein In-die-Zange-genommen-werden, wandelte sich zu einer rhetorischen Spielwiese. Voller Freude über diese frisch erworbene, grundlegende Kompetenz zwischenmenschlicher Verständigung, wagte ich mich dann sogar auf das Feld kommunikativer Kür: Humor, Empathie, Schlagfertigkeit. Und es gelang, für eine kurze Zeit. Eine, maximal zwei Stunden. Bis eine Überdosierung der Droge die neue Fähigkeit so schnell nahm, wie sie gekommen war.
Mein Gastgeber stellte ein großzügig gefülltes Halbliterglas vor mir ab, zauberte ein zweites hinter dem Tresen hervor, hielt es auffordernd in meine Richtung. Wir stießen an. „Hans. Wirt, Koch, und euer Techniker für heute Abend, wenn du zur Band gehörst, wie ich mal annehme“. Aus der Nähe wirkte er noch ungepflegter, vernachlässigter. Der Kopf ein einziger verwahrloster Kräutergarten. In diesem Kopf setzte sich, wie zum Trotz, ein Augenpaar gegen seine traurige Umgebung zur Wehr. Hellwach, voller Energie, sprühte es Intelligenz, Witz, und eine gutmütige Verschlagenheit in die Welt. Dieser Mann war mir auf Anhieb sympathisch.
„Paul, Bassist“.
Es stellte sich heraus, dass Hans ebenfalls Bass spielte. Er erzählte von seiner Band, die aus Mitgliedern der Druckerei bestand und gelegentlich im eigenen Haus auftrat. Gespräche unter Musikern folgen in der Regel dem gleichen Schema wie die Kommunikation unter Liebhabern aller Genres, seien es Motorradfahrer oder Münzsammler. Man bewirft sich mit Fachbegriffen, gibt ein wenig an, versucht, Kenntnisse und Fähigkeiten seines Gegenübers auf der eigenen Fertigkeitsskala einzuordnen. Welche Saiten bevorzugst du? Spielst du Fretless? Röhre oder Transistor? Effekte oder clean?
Hans schien sich nichts aus dieser Prozedur gegenseitigen Beschnupperns zu machen. Er legte eine offene Packung Tabak auf den Tresen, drehte sich eine Zigarette und funkelte mich listig an. „Bist du Bassist oder Musiker?“
Ich verstand die Frage nicht. Für mich waren Bassisten eine Teilmenge der Musiker, ich war folglich beides. Mein Unverständnis schien ihn zu amüsieren. Er steckte sich die fertige Zigarette an, nahm einen tiefen Zug. „Nochmal: Bist du Bassist oder Musiker?“ insistierte er. „Beides natürlich“, war alles, was mir als Antwort einfiel. Er nickte wissend, grinste mich an, und wir ergaben uns in einen Wirt-Gast-Dialog über Belanglosigkeiten.
Nach und nach trudelten weitere „Drucker“ ein. Thekenpersonal, Programmplaner, Mitglieder, deren Tätigkeitsbereich ich nicht ermitteln konnte. Sie alle waren daran zu erkennen, wie selbstverständlich und routiniert sie sich innerhalb der Räumlichkeiten bewegten. Nicht hektisch, nicht zielstrebig, so als überlegten sie während des Gehens, was sie als nächstes tun wollten. Es war eine Atmosphäre ruhiger Geschäftigkeit, völlig entspannt. Doch über allem lag auch eine Nuance von Ungeordnetheit. Jemand ging in die Küche, kam wieder heraus, schüttelte den Kopf, ging zurück. Ein anderer verschwand durch eine seitliche Tür im Saal, nur um einen kurzen Moment später durch eine andere Tür wieder in den Kneipenraum zurückzukehren. Es hatte etwas von einem Mäuselabyrinth.
Ich saß, mittlerweile beim vierten Bier angekommen, immer noch am Tresen. Niemand interessierte sich für mich, jeder war mehr oder minder beschäftigt. Hans war ein paar Minuten im Saal verschwunden. Die allgemeine Nichtbeachtung erschien mir freundlich, hatte nicht den bitteren Beigeschmack von Ignoranz oder Xenophobie. Ich konnte hier einfach sitzen, unbehelligt und akzeptiert, gehörte in diese Szenerie wie ein altes Möbelstück. Über dieses neue Gefühl legte sich sanft die klärende Wirkung des Alkohols, die Dosierung war perfekt, die Metamorphose abgeschlossen. Hier wollte ich sein, nirgends anders.
Gegen 18 Uhr tauchten meine Mitmusiker auf. Weder für sie noch für mich war überraschend, dass mein Gedächtnis den Aufbautermin zwei Stunden vorverlegt hatte. Der Programmverantwortliche, der an diesem Abend für uns zuständig war, geleitete uns in den Saal, begutachtete mit uns die Bühne, und wir bauten unser Equipment auf.
Die Zeit zwischen Aufbau und der letzten Zugabe erlebte ich als einen durchgängigen Rauschzustand. Während des Soundchecks nahm ich mich noch entfernt wahr, hörte mich spielen, vernahm gerade noch die eigene Stimme, die über das Mikrofon Rückmeldungen an den Tontechniker gab. „Bitte den Bass auf dem rechten Monitor etwas lauter. Noch ein bisschen. Ja, so ist gut“. Hans war am anderen Ende des Saales fast komplett hinter einem riesigen Mischpult verschwunden, das offensichtlich ein Eigenbau war. Von der Bühne aus wirkte es wie ein aufgestocktes Bett aus der Gründerzeit. Ein massives Stück dunklen Holzes, das jemand im Wahn mit Hunderten von Reglern und Buchsen bestückt hatte. An der mir zugewandten Seite prangte ein großer Aufkleber: HaLi-Sound. Und hier reißt der Faden. Irgendwann muss sich der Saal gefüllt haben. In den ersten Reihen des Publikums vermutlich Freunde, gute Bekannte, Klassenkameraden. Wohlgesinnte, Mutmacher. Das Konzert muss ganz ordentlich gewesen sein – zumindest berichteten die anderen Bandmitglieder am nächsten Tag von mehreren Zugaben, die verlangt worden waren. Nach dem Abbau und Verstauen des Equipments und einem letzten Getränk waren sie wohl zügig nach Hause gefahren, hundemüde nach gelöster Anspannung.
Mein Bewusstsein gesellte sich erst wieder zu mir, als ich allein am Tresen saß. Hinter der Theke polierte eine Frau, die ich noch nicht gesehen hatte, Gläser. Leiser Bar Jazz tauchte den Raum in die Stimmung eines ausgehenden Sommerabends. Die Thekenfrau nickte in Richtung einer vor mir stehenden Bierflasche. „Noch eins, Paul?“ Ich reichte ihr die leere Flasche und bejahte, verwirrt, dass sie meinen Namen kannte. Hinter mir schloss jemand eine Tür. Ich drehte mich um, sah Hans aus dem Saal auf mich zukommen. Er setzte sich neben mich und wir bekamen beide eine Flasche Budweiser. Unsere Wirtin packte ihre Sachen zusammen, verabschiedete sich von uns, und ging.
Wir saßen bis in die frühen Morgenstunden zu zweit nebeneinander an der Theke, redeten über Musik, über Träume, über das Leben, über Rückschläge und Erfolge, über die Vergangenheit und die Zukunft. Über uns. Ich hatte das Gefühl, zum allerersten Mal in meinem Dasein irgendwo angekommen zu sein. Ernstgenommen zu werden. Einen winzig kleinen Teil dieser Welt zu begreifen. Überhaupt irgend etwas zu begreifen. Mit diesem Mann hier zu sitzen und zu reden, war wie das erste Öffnen eines Fensters in die Welt des Erwachsenseins. Und als ich mich in der Morgendämmerung auf den Weg nach Hause machte, war mir klar, dass es, wenn man ein ganz ordentlicher Bassist ist, noch lange nicht bedeutet, dass man auch ein guter Musiker ist.
Ab jenem Tag wurde die Druckerei eine Heimat für mich. Nicht die zweite Heimat, sondern die erste und einzige. Bereits in der Woche darauf saß ich fast jeden Abend am Tresen, beobachtete das bunte, leicht chaotische Treiben, lernte Gäste und Akteure kennen, fieberte den Abenden entgegen, an denen Hans wieder Dienst an der Theke haben würde. Bei größeren Veranstaltungen half ich aus, wo ich konnte und durfte. Baute im Saal Stuhlreihen auf oder ab, räumte Tische ab, spülte Gläser. Als nach einigen Wochen der Zauber des Neuen verflog, war ich bereits so weit integriert, dass meiner notorischen Sprunghaftigkeit jegliche Intervention versperrt war. Wie in einer idealen Liebesbeziehung war das anfängliche Verliebtsein übergegangen in ein zuverlässiges, befriedigendes Zusammensein. Ich respektierte und wurde respektiert. Ich nahm und ich gab. Ich half und mir wurde geholfen. Und ich war glücklich.