Erzähl’s deinem Friseur

Viele ADHS’ler hassen Smalltalk. Wir können mit diesem Ritual der Welt da draußen nichts anfangen, sehen keinen Sinn darin, haben manchmal Angst davor.

Eine Brutstätte für Smalltalk der besonders perfiden Art sind Friseursalons. Jahrelang verursachte mir ein nahender Termin Albträume und Schweißausbrüche. Das Bild, wie ich hilflos, ausgeliefert, in dem Stuhl klebe, mein mich anstarrendes Spiegelbild eine verkrampfte Maske, ließ mich schon nachts aus dem Schlaf hochschrecken.
Aber welcher Mann will schon aussehen wie der amerikanische Präsident oder der britische Premier? Zumal beide Anlass zu der Vermutung geben, dass sich fehlendes Hairstyling unmittelbar auf den präfrontalen Cortex auswirkt. Also unterzog ich mich für viele, viele Jahre einem Martyrium, das immer und immer wieder dem gleichen Schema folgte.

Ich sitze im Stuhl. Es kommt, wie es kommen muss. Die erste unvermeidliche Frage: „Dieses Jahr schon im Urlaub gewesen?“ Jedes Mal ein Déjà-vu kommunikativen Grauens. Meine Replik darauf eine berechtigte Gegenfrage: „Wer?“
Kurze Pause. Offensichtlich sind Dienstleister und Kunde bereits jetzt nicht mehr auf der gleichen Wellenlänge (man erkenne den Wortwitz). Barbier, zweiter Versuch: „Wetter ist ja auch nicht so“. ADHS’ler wartet auf das Ende des Satzes. Begreift nicht, dass Aussagen ohne Adjektive und volle Verben die ganz hohe Schule sind. Versucht eine Antwort, lässig, weltgewandt. „Jau aber nichts gegen den Winter achtundsiebzig neunundsiebzig alter da konnte nicht mal mehr Dennis Rodman ein Loch in den Schnee pissen so hoch lag das Zeug vorm Haus solche Winter kennen wir gar nicht mehr hier kann man doch im Januar Kiwis ernten“.
Lange Pause. Barbier überlegt, wer Dennis Rodman ist. ADHS’ler überlegt, dass Barbier den Winter 78/79 höchstens aus den Memoiren seiner Großeltern kennt.
Wieder alles vermasselt. Barbier gibt es auf. ADHS’ler verfällt in eine Art Schockstarre, langhaariges Reh im Scheinwerferlicht.
Endlich, der Handspiegel kommt, macht die Runde um meinen Kopf. Fast wie im MRT. „Von der Länge gut so?“, fragt das MRT. Ich wollte es eigentlich viel kürzer haben, nicke aber zustimmend voller Inbrunst. Keine Minute halte ich es länger aus. Ich muss hier raus. Brauche eine Kippe. Und einen Drink.

Seit drei Jahren bin ich bei einem neuen Friseur. Ich liebe ihn, also im platonischen Sinne. Wer Björn das erste Mal gegenübersteht, würde dessen Tätigkeit eher in den London Docks des 19. Jahrhunderts oder einem Tattoo Studio in Köln-Kalk vermuten. Für einen Austausch über die neuesten Erkenntnisse aus der Quantenmechanik reicht es bei uns beiden nicht, oder vorsichtiger: bei mir nicht. Meine Haare sind auch nicht so interessant, dass man sich ausgedehnt über sie unterhalten könnte. Aber irgendwie finden wir immer ein spannendes Thema. Ich sitze locker im Stuhl, mein Kopf muss nicht unter Aufwendung aller Kräfte von links nach rechts und zurück gedreht werden – er fügt sich einfach, ich merke es gar nicht. Und wenn wir fertig sind, ist es eher so, als hätten wir für eine Stunde im Pub gesessen und über das Leben gequatscht.

Gestern eröffnete Björn mir, dass er ab jetzt nicht mehr schneiden wird. Er kümmert sich ab sofort um sein zweites Standbein, den Vertrieb eigener Pflege- und Kosmetikprodukte. Hurensohn, elender. Schickt mich erneut auf eine Odyssee. Mehr als vierzig Jahre hat die letzte gedauert. Heißt also, dass ich mit 92 das nächste Mal in einem Frisierstuhl wohl fühle. Wenn ich dann noch Haare habe.
Trotzdem: Lieber Björn, ich wünsche dir von Herzen alles Gute für dein Leben, deine Familie, dein Geschäft! Du bist großartig.

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